Rilke und die Dinge
Silke Marita Beinssen
Thesis in partial fulfilment
of the requirements for the Degree of Bachelor of Arts in the Honours School of
Arts.
German IV, 1957
(Awarded the Sydney University Medal 1957)
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung und Disposition
I Die Dingbezogenheit
von Rilkes Lebens und Dichtens
II Versuch einer
zeitgeschichtlichen Begründung für die Dingzuwendung Rilkes
B. Das Frühwerk Rilkes
I Darstellung
von Rilkes Naturgefühl und Naturvorstellung. (Seinsgefühl statt Lebensgefühl)
II Erschütterung
des Naturgefühls durch das
Großstadterlebnis
und Festigung der Einstellung zum Ding
C. Erlebnis der bildenden Kunst und seine
Auswirkung auf Rilkes Weltanschauung und Kunstverständnis
I Wesenserfassung des Kunstwerks als Gestalt
und formale Auswirkung des neuen
Formbewußtseins auf Rilkes Kunst
II Erlernen einer
neuen künstlerischen Haltung dem Objekt gegenüber
III Darstellung der skizzierten Entwicklung an einzelnen Gedichten
a) Die
Situation des Menschen zur Form vereinfacht und in Analogie zum Ding gesehen. Die Form von der Grenze und
Mitte aus erfasst.
b)
Ausdeutung des Kunstwerks auf den Menschen hin.
c)
Übernahme weiterer Elemente aus der bildenden Kunst: Komposition, Linie, Farbe.
d)
Begründung und Charakterisierung der Dinglyrik.
D Der Weg vom Ding als metaphysischem Schema (Mitte,
Grenze) zur Gestalt des Engels
I Notwendigkeit
einer Selbstbegrenzung mit ihren Gefahren und
deren Überwindung
a) Der Künstler als Arbeiter und Seher.
b)
Schwerpunktverlagerung vom Kunstwerk zum Schaffensakt des Künstlers.
c) Weisen
künstlerischen Verhaltens zum Stoff: Schauen, Liebe.
d)
Erfahrung des Einbezogenseins im Weltganzen durch die Liebe (Weltinnenraum). Das isolierte Ding wird
zum Ding des Bezugs.
II Verfehlen
einer sinnvollen Beziehung des Dichters zum Menschen
E Die gelebte und praktische Beziehung Rilkes zu den Dingen
I Die Wandlung der Einstellung vom Ding als
Spielzeug zum Ding als
Gebrauchsgegenstand
a) Begründung der Bedeutung des Dinges für Rilke.
b) Das
spielende Kind in Analogie zum Künstler. Spielzeug, Kunstding.
c)
Auseinandersetzung mit den Problemen der Kindheit und des Künstlertums anhand des Puppensymbols.
II Die Dinge
des täglichen Umgangs und Gebrauchs in ihrem Symbolgehalt
für das menschliche Dasein: Haus, Krug, Brücke, Tor, Fenster, Obstbaum und Brunnen
F Schluss
Charakterisierung der
Klassik Rilkes
A Einleitung und Disposition
I Die Dingbezogenheit von Rilkes Lebens und
Dichtens
Rilke hat
einmal in einem Brief das Bekenntnis abgelegt: “Ich habe das eigentümliche Glück,
durch die Dinge zu leben.” [1]Das
ist eine von vielen Gelegenheiten, bei denen er diese besondere Vorliebe für
das Leblose, Anorganische in seiner Umwelt aussprach. Schon sehr früh wird das
Wort “Ding” eines der Schlüsselworte seines Sprachgebrauchs, zu dem alle seine
Ansichten und Gedanken irgendwie in Beziehung treten, und es behält diese
Stellung bei. Auch noch in seiner endgültigen Auseinandersetzung mit dem Wesen
des Menschen und dem Sinn seines Lebens in der Welt, in den Duineser
Elegien, wird die menschliche Sendung in Bezug auf die Dinge ausgesprochen.
Im täglichen Leben standen dem menschenscheuen Dichter die Dinge ebenfalls
besonders nahe. Rilke verdichtete die dinglichen Eigenschaften und verlieh
ihnen sowohl eine moralische wie eine metaphysische Vorbildlichkeit für den
Menschen. Sie wurden Stoff und Thema seiner Dichtung und stehen an einem
Kreuzpunkt, wo Leben und Werk, Mensch und Künstler sich treffen.
Es scheint
insofern möglich, Rilkes dichterische Entwicklung im Zeichen des Dinges zu sehen,
auf analoge Weise, wie man Shakespeares Werk oder die deutsche
Humanitätsdichtung im Zeichen des Menschen, und die eines romantischen Dichters
wie etwa Wordsworth im Zeichen der Natur betrachten kann, weil in jedem Fall
das innigste Verhältnis zur Umwelt auf dem genannten Gebiet erfahren wurde und
alles andere Erleben dadurch gefärbt. Wie zentral jeweils dies besondere
Erlebnis ist, zeigt sich daran, dass es die Gottesvorstellung völlig
beherrscht. In Zeiten, in denen das Menschenbild und die menschliche
Gemeinschaft im Vordergrund stehen, ist der Gott ein personaler Gott und das
Verhältnis zu ihm ist ein Ich-Du Verhältnis. Der christliche Gott ist zum
Beispiel ein persönlicher Gott, der als Mensch gedacht wird; er wird als Herr
oder Vater angesprochen und die Bibel berichtet, dass der Mensch als sein
Ebenbild geschaffen wurde. Wenn Schiller
sich in dem Gedicht “Die Götter Griechenlands” gegen die christliche Religion
empörte, griff er nicht das Menschliche an, sondern das Jenseitige. Er verlegte
die Welt der Götter aus dem Himmel auf die Erde, aus der unsichtbaren in die
sichtbare Welt, aber seine Götter behielten menschliche Gestalt. Der Mensch ist
der Gipfel der Natur bei allen diesen Dichtern, und die ihm eigene Gabe der
Vernunft oder des Geistes ist von besonderem Wert. Bei Naturdichtern, wie
Wordsworth und Shelley, auch bei Mörike (trotz seines Pfarrerberufes, der eine
christliche Weltanschauung nahelegen würde) ist der Gott Seele oder Kraft der
Natur und offenbart sich im Wirken der Elemente oder im organischen Wachstum
und seinem Kreislauf von Werden und Vergehen. Rilke dagegen nennt an einer
Stelle im Stunden-Buch Gott “das Ding
der Dinge”. Er gibt Rodin recht, als dieser erzählt, dass er beim Lesen eines
Buches über die Nachfolge Gottes durchweg an die Stelle von Gott “Skulptur”
gesetzt habe: “es stimmte”.
II Versuch einer zeitgeschichtlichen Begründung
für die Dingzuwendung Rilkes
Wenn man die
europäische Entwicklung der letzten Jahrhunderte verfolgt, trifft es im großen
Ganzen zu, dass sich der Standpunkt des Erlebens von Mensch, zu belebter Natur,
zu unbelebter Materie verschoben hat. Wie wichtig heute das Anorganische ist,
weist unsere Zivilisation überall auf.
Die Wissenschaften, die sich dem Anorganischen widmen, wie Physik und
Chemie, stehen im Vordergrund. Das Streben des Menschen geht heute vor allem
darauf aus, Macht über die Materie zu gewinnen und sie sich dienstbar zu
machen. Im sozialen Leben sind mehr als je wirtschaftliche Fragen
ausschlaggebend, also Fragen von Gütern und Besitz. Die schaffende Kraft, die
früher das Lebendige war, ist heute in der Hauptsache eine physikalische Kraft.
Die Menschenhand ist durch die Maschine ersetzt worden, das Reitpferd durch das
Automobil, die natürliche Faser durch die Kunstfaser. Auch in der Philosophie
ist die materialistische Richtung dominant. Es ist deshalb nicht verwunderlich,
wenn die Kunst sich auch weitgehend dem Anorganischen zuwendet.
Der Mensch,
der seiner Veranlagung nach sowohl an Geist und Leben wie an Materie teilhat,
begegnet in der reinen Materie nur einem dieser Aspekte seines Wesens. Es wird
ihm deshalb sehr viel schwerer, die verschiedenen Seiten seiner Natur im
Gleichgewicht zu halten und in diesem Sinne ein ganzer Mensch zu sein. Immer mehr wird er darauf angewiesen, Geist
und Leben in sich selbst zu suchen statt in dem begegnenden Anderen, wenn das
Materielle in ihm nicht ganz die Vorherrschaft gewinnen soll. Er wird sich infolgedessen
der verschiedenen Elemente seines Wesens überbewusst und es bildet sich der
Menschentypus, den Schiller im Gegensatz zum naiven den sentimentalischen
nannte. Die Welt zerfällt nun in Gegensatzpaare; überall werden Polaritäten
oder geradezu Widersprüche fühlbar und der Mensch sucht nach Möglichkeiten,
sich wieder als ein Ganzes zu fühlen und zu erleben, ein abgeschlossenes “Ding”
zu sein.
Es muss wohl
unbedingt als eine Störung angesehn werden, wenn in der Moderne weitgehend das
einseitige Verhältnis zur Materie einem allseitigen vorgezogen wird, denn
während die Beziehung zu anderen Menschen immer die zur organischen, wie auch
zur anorganischen Welt, in sich beschließt und deshalb das Verhältnis zur Welt
als Ganzheit nicht zum Problem wird, setzt das Verhältnis zur rein materiellen
Welt, zu den Dingen, keineswegs eine wirkliche Beziehung zum Mitmenschen oder
auch zur Natur voraus. Infolgedessen wird das menschliche Verhältnis zur Umwelt
mit der Überbetonung des Anorganischen problematisch. Der Rilke der
Dinggedichte, um den es uns hier geht, gehört in diesen zeitgeschichtlichen
Zusammenhang.
Es ist mir
durchaus bewusst, dass eine Arbeit, die Zeitgeschichtliches, Weltanschauliches,
und im Folgenden auch Kusttheoretisches um einen einzigen Punkt zu versammeln
sucht, etwas Bedenkliches unternimmt. Es scheint mir jedoch die einzige
Möglichkeit zu sein, dem auf den ersten Blick sehr verschiedenen, immer sehr umfassenden
Gebrauch des Wortes “Ding” bei Rilke gerecht zu werden.
Es ist im
Rahmen dieser Arbeit nicht möglich zu untersuchen, ob andere moderne Dichter
und Schriftsteller mit ihrem Denken und Dichten auf ähnliche Weise wie Rilke in
die zeitgeschichtliche Entwicklung eingetreten sind. Es ließe sich aber gut
denken. Sedlmayr hat in seinem Buch Verlust
der Mitte eine parallele Richtung in der bildenden Kust aufgewiesen. Es
soll hier keineswegs von einer notwendigen Entwicklung aus den
zeitgeschichtlichen Verhältnissen die Rede sein, sondern nur von einer
folgerichtigen, die in dieser Konstellation vielleicht nur bei Rilke zu finden
ist. Es soll auch keineswegs gesagt werden, dass jene Dichter, die eben als
“Dichter des Menschen”, oder “Dichter der Natur” genannt wurden, es je auf ganz
dieselbe Weise waren, wie Rilke ein Dichter des Dinges ist. Trotzdem könnte man
sich auch hier vorstellen, dass sich ähnliche Zusammenhänge finden ließen.
B. Das Frühwerk Rilkes
I Darstellung von Rilkes Naturgefühl
und Naturvorstellung. (Seinsgefühl statt
Lebensgefühl)
Es mag auf
den ersten Blick befremden, dass Rilke, der zumindest in seinem Frühwerk, den Frühen Gedichten, dem Buch der Bilder und dem Stunden-Buch, hauptsächlich aus dem
Erlebnis der Natur heraus zu dichten scheint, hier wesentlich als ein Dichter
des Anorganischen dargestellt werden soll. Insofern ist es nötig, dass man sich
über die Art seines Naturgefühls und seiner Naturvorstellung während dieser
Zeit klar wird.
Wenn man die
frühen Gedichte liest, fallen einem vor allem die Süße der Lautmelodie, die
Zartheit der Rhythmik und die Gleichheit der Stimmung auf. Die Worte scheinen
alle Schwere verloren zu haben und sind nur noch Musik. Eins wie das andere
gemahnen diese Gedichte an Wiegenlieder,
die behutsam jeden harten Klang vermeiden und durch ein gleichmäßiges Fließen, zu
dem Häufungen weicher Reime am Ende kurzer Zeilen, die mehrfache Wiederholungs
des “und” in einer losen Aneinanderreihung, und zum Schluss das Hinüberfließen
ins Schweigen ohne weckenden Abschluss, in den Schlaf tragen. Die Gedichte
scheinen alle aus einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen hervorgegangen zu
sein, in dem die Sinne fähig werden, die feinsten Eindrücke wahrzunehmen, dabei
aber von einer fast wehleidigen Empfindlichkeit sind. Rilke lauscht in die
schweigende Natur; er sieht Schatten und
Schimmer, fühlt “scheue Schauer”, das Zittern der Bäume und Gräser, das Wellen
der Wiesen im Winde. Auch die Natur ist von mimosenhafter Sensibilität.
…..Die Äpfel ängsten an den Ästen,
und jeder Wind tut ihnen weh.
heißt es in
einem Gedicht. Die blassen Knaben und stillen Mädchen, die Königskinder mit
schweren Gewändern und alten Kronen, die durch diese Gedichte geistern, haben
keine vitale Lebenskraft und keinen sinnvollen Platz innerhalb der
Menschenwelt, sondern sind nur noch Gefühl und reich-schmückendes, zu schweres
Gewand, sind traumhafte Atmosphäre, aus dem Bildergut der Romantik übernommen. Man
könnte manchmal daran zweifeln, ob die sichtbare Welt für Rilke wirkliches
Erlebnis war, und nicht viel eher seinem gleichbleibenden Gefühl als
Begleitmelodie und Ausschmückung diente. Den Dichter zeichnet eine nervöse,
fast krankhafte Empfindlichkeit aus, die im Körperlichen verhaftet bleibt; die
Natur ist zitternde, flimmernde Oberfläche, von Wind und Sonne und nicht von
einer treibenden Lebenskraft bewegt.
Angesichts
der russischen Landschaft, die Rilke auf einer Reise im Jahre 1899
kennenlernte, vertiefte sich sein Naturgefühl, das bis dahin im rein Sinnlichen
verhaftet gewesen war, zu einem religiösen Erlebnis. Dieses fand seinen Niederschlag in den ersten
beiden Büchern des Stunden-Buches. Wesentlich hat sich hier nichts gegen die Frühen Gedichte verändert. Rilke steht
dem lebendigen Wachstum der organischen Einheit des Lebewesens noch genauso
verständnislos gegenüber. Nur die Nervosität seiner Empfindung beruhigt sich,
die Gleichheit des Rhythmus, die schon für das Flimmern und Zittern bezeichnend
war, vertieft sich hier zur Monotonie, zum Gesetz, schließlich zur Ruhe und zum
Dunkel. Aber auch im Stunden-Buch bleibt
sich die Stimmung gleich, und der Rhythmus ist ein stetiges, gleichmäßiges
melodisches Fließen.
Goethe sah in
allem organischen Leben eine Mischung von Freiheit und Notwendigkeit, und diese
Auffassung wird von der modernen Naturwissenschaft bestätigt. Für Rilke aber gibt
es in der Natur nur Gesetz. Die Kräfte
gehen “dienend’ durch die Pflanzen.
Gehorsam ist die charakteristische Eigenschaft alles Organischen und
Anorganischen. Durch das Gesetz, dem sie
gehorchen, sind die Menschen unmittelbar mit Gott verbunden. Gott ist die Wurzel,
oder die Erde, aus der sich die Bäume erheben. Es ist bezeichnend, daß Rilke
die Gottverbundenheit am besten an leblosen Dingen darstellen kann. Gott wird
zum Beispiel mit einem Meer verglichen, aus dem sich die unverdorbene Natur wie
ein Felsen erhebt und das sich in einem gesetzmäßigen, eintönigen Wellenschlag
bewegt. In einem Gedicht aus dem “Buch der Pilgerschaft” wird die Natur damit
charakterisiert, dass sie dem Gesetz der
Schwere untersteht.
Wenn etwas mir vom Fesnster fällt
(und wenn es auch das Kleinste wäre)
wie stürzt sich das Gesetz der Schwere
gewaltig wie ein Wind vom Meere
auf jeden Ball und jede Beere
und trägt sie in den Kern der Welt.
Ein jedes Ding ist überwacht
von einer flugbereiten Güte
wie jeder Stein und jede Blüte
und jedes kleine Kind bei Nacht.
Nur wir, in unsrer Hoffahrt, drängen
aus einigen Zusammenhängen
in einer Freiheit leeren Raum,
statt, klugen Kräften hingegeben,
uns aufzuheben wie ein Baum.
Statt in die weitesten Geleise
sich still und willig einzureihn
verknüpft man sich auf manche Weise, -
und wer sich ausschließt jedem Kreise,
ist jetzt so namenlos allein.
Da muss er lernen von den Dingen,
anfangen wieder wie ein Kind
weil sie, die Gott am Herzen hingen,
nicht von ihm fortgegangen sind.
Eins muss er wieder können, fallen
geduldig in der Schwere ruhn,
der sich vermaß, den Vögeln allen
im Fliegen es zuvorzutun.
Man wird hier
unwillkürlich an Schillers Zeilen aus “Die Götter Griechenlands” erinnert:
Unbewusst der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,
Nie gewahr des Geistes, der sie lenket,
Sel’ger nie durch meine Seligkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre.
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.
Wie Rilke zur
selben Zeit in seinem Aufsatz über die Worpsweder Landschaft schreibt,
existiert diese Natur völlig unabhängig vom Menschen; auf ihre Schönheit kommt
es nicht an. Das Mechanische erhält aber ein neues Gesicht bei Rilke, denn es
ist ihm im Grunde wenig um das Leben zu tun, sondern vor allem um das, was
jenseits der Zeit steht: das Sein.
Du sagtest Leben laut und Sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein.
So deutet er
den Weltwillen Gottes. Insoweit das
Leben Gesetz und Monotonie ist, steht es außerhalb der Zeit und ist wesentlich
Ruhe und Stillstand. Im Bild des Rades wird die Idee der Einheit von immer
wiederkehrendem Gesetz und der ruhenden Mitte veranschaulicht:
Du bist ein Rad, an dem
ich stehe:
von deinen vielen dunklen
Achsen
wird immer wieder eine
schwer
und dreht sich näher zu
mir her, …
Was hier vor
allem deutlich werden soll ist, dass das Lebensgefühl einem Seinsgefühl Platz
gemacht hat. Damit nähert sich der Organismus, insofern er bewegt ist, einem
Mechanismus und insofern er Gestalt ist, einem Ding. So kommt es, dass Rilke im
Stundenbuch auch von Bäumen als Dingen spricht.
In den “Geschichten vom Lieben Gott” wird erzählt, dass Gott zuerst die
großen wirklichen Dinge schuf “als da sind Felsen, Gebirge, ein Baum”. Die Landschaft spricht Rilke’s Gefühl durch
ihre Weite an, in der sich einige wenige scharf umrissene Dinge erheben, es
mögen Bäume, Kurgane oder Häuser sein, also indem sie Raum und Form ist. In
ihrer räumlichen Dimension ist jedoch die Landschaft nicht eigentlich mehr
Natur. Rilke hat die lebendige Natur zu
keiner Zeit seines Lebens wirklich erkannt. Am nächsten hieran reicht er in dem
1902 entstandenen “Herbsttag”. In diesem Gedicht, das vielleicht als das
schönste der Frühzeit gelten darf, wird ihm gerade dieser Verlust der
lebendigen Natur zum Erlebnis. Nur noch wenige Tage, und die Früchte werden
reif sein; der Sommer ist vorüber, und es werden jetzt über die weiten Fluren
die Winde das schlafende Leben und die toten Blätter von aussen bewegen.
Vielleicht unbewusst scheint auch hier das Gefühl, an einer Zeitenwende zu
stehen, zugrunde zu liegen. Es taucht im
Stunden-Buch immer wieder auf:
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Händen dreht.
Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,
auf der noch alles werden kann.
Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite
und sehn einander dunkel an.
Auch wenn
sich Rilke zu dieser Zeit dessen noch nicht klar bewußt war, ist dies die Wende
zur Zeit der Technik, und mochte er sich innerlich noch so sehr gegen seine
Zeit auflehnen, er war wie wenige andere in ihr befangen. Der neue Gott, auf
den er zustrebte, der “werdende Gott”, war eine Weltanschauung, eine Auffassung
vom Menschen und von der Kunst, die ganz in dem Geist dieser Epoche wurzelt.
Obwohl Rilke
meint, im Stundenbuch eine Natur und Lebensmystik zu verkünden, hat er in
seiner Philosophie Natur und Leben schon überwunden. Die Anbetung des Lebendig-Natürlichen,
die für das religiöse Gefühl der Klassik und der Romantik bestimmend war, wurde
in der Philosophie Schellings zu einer allgemeinen Weltanschaung
systematisiert, die aller Naturdichtung der Spätromantik unbewusst zugrunde
lag. Auch Rilke steht im Stunden-Buch
noch innerhalb der romantischen Tradition, die ihm jedoch im Grunde nicht mehr
sehr viel bedeutet. Es ist übernommenes, nicht erworbenes Gedankengut. Seine
Mystik hat mehr mit der des Ostens gemeinsam, die aus der lebendigen Gestaltenfülle
der Welt in die absolute Ruhe des Nirvana strebt, in einen Zustand, der uns
Europäern schwer fasslich ist, weil er
nur als ein Nichts beschrieben werden kann. Wie dicht Ruhe und Stillstand an
ein Nichts heranreichen können, begriff Rilke damals noch nicht; davor schützte
ihn die lebendige Natur, die ihn in Russland, in Schmargendorf und in Worpswede
umgab.
Die oft umstrittene
Frage, wie weit Rilkes Stunden-Buch der Ausdruck wirklicher
Religiosität ist, kann hier nicht
erörtert werden. Rilke fühlte sich auch zu dieser Zeit vor allem zum Künstler
berufen, und im Zusammenhang mit seiner Kunst muss seine Mystik als die Haltung
des Lyrikers, der immer aus der allen Abstand überwindenden Verschmelzung mit
seinem Gegenstand heraus dichtet, verstanden werden. Die Grundhaltung des
Lyrikers ist immer die Liebe gewesen, weil in ihr die größtmögliche Nähe zum
Gegenstand erreicht wird: die Liebe zu einem anderen Menschen oder zur
Natur. Wir sahen, dass Rilke nicht an
die Liebe zu einem anderen Menschen glaubte. Die Liebenden täuschen sich
miteinander nur über ihr wirkliches Los hinweg, heißt es bei ihm. Das
Naturgefühl, aus dem die Lyrik seiner ersten Schaffensperiode hervorgegangen
war, wurde durch das Erlebnis der Großstadt, das ihn mit seiner Übersiedlung
nach Paris überwältigend traf, vollkommen erschüttert. Es war, wie gesagt, von
Anfang an auf keinem festen Boden gegründet gewesen. Rilke ist in Paris von den
wirklichen Dingen umgeben und wird nun gezwungen, die Ideen, deren volle
Tragweite und Bedeutung er bis dahin noch nicht erfasst hatte, zu durchdenken
und zu durchleiden: das Versprechen, das er als Mönch des Stunden-Buches abgelegt hatte: “ich will die Dinge so wie keiner
lieben, bis sie dir [Gott] alle würdig sind und weit”; den Anspruch in der
Worpsweder Monographie: “indem er [der Künstler] die Menschen zu den Dingen
stellt, erhebt er sie: denn er ist der Freund, der Vertraute, der Dichter der
Dinge”; jenen Anruf an den Menschen: “demütig sei jetzt wie ein Ding”; die
Sehnsucht nach Gott als “einem einigen Verstande, der mich wie ein Ding
überschaut”; ja, die Vorstellung, dass Gott selbst “das Ding der Dinge” sein
könnte. Er muss sich jetzt damit auseinandersetzen, was ihm Gott, der Mensch,
die Welt und die Kunst wirklich bedeuten. Hier steht ihm nicht wie den
Spätromantikerns eine Philosophie zur Verfügung, auf die er sein Weltgefühl
gründen kann. Er muss selbst zum Denker und Philosophen werden, und so kommt
es, dass seine Dichtung jetzt sehr oft einen philosophischen Einschlag hat, wie
ja auch die Dichtung der Frühromantik, zum Beispiel, die sich ihren
Naturglauben auch erst auf dem Wege des Gedankens erringen musste. Seine Lyrik
bekommt ebenfalls ein neues Gesicht und einen neuen Klang, denen nichts, was
die deutsche Dichtung bis dahin hervorgebracht hatte, gleichkommt. Denn diese neue
Lyrik Rilkes geht im Einklang mit seiner Weltanschauung aus der Liebe zu den
Dingen hervor. Es sind die Dinggedichte,
von denen vielleicht das reinste und schönste die “Römische Fontäne” ist.
II Erschütterung des Naturgefühls durch das
Großstadterlebnis und Festigung der Einstellung zum Ding
Rilke hatte
beim Anblick der Natur eine wunderbare Gottgeborgenheit empfunden. Er war ihr
auf dem Grund des Lebens begegnet, und seine Triebe und Gefühle, - die Eigenschaften,
durch die Geist und Körper in eines geschmolzen werden – fanden ihren Widerhall
im triebhaften Wachstum der Natur. Beim
Anblick der Häuser und Straßen der Großstadt antwortet jedoch nichts Lebendiges
seinem Gefühl; er sieht nur geistlose, leblose Materie. In Paris überkommt
Rilke immer wieder die Ahnung des Nichts, aber nicht im positiven Sinne als
Nirvana, als Ziel des Lebens, sondern im negativen Sinne. Er erlebt die Angst,
“jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die
ganze sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloser über Abgründe hinüberhübe”.
So beginnt das dritte Stunden-Buch
mit der erschütternden Frage: “geh ich in dir [Gott] jetzt? Bin ich im Basalte
wie ein noch ungefundenes Metall? … Oder ist das die Angst, in der ich
bin? Die tiefe Angst der übergroßen
Städte, an die du mich gestellt hast bis ans Kinn?”
Die einzige
Möglichkeit für den Menschen, an dieser Begegnung mit dem Leblosen nicht
zugrunde zu gehen, ist, dass er ihm Geist einhaucht, indem er ihm eine
Bedeutung gibt. Die Materie, in die sich der Geist des Menschen ergossen hat,
das heißt also im Grunde jedes Ding, das der Mensch gemacht hat, oder sinnvoll
in sein Leben einbeziehen kann, ist dann kein Nichts mehr. So wird also der Mensch, insofern er Materie
gestaltet und sinnvoll macht und insofern er die Bedeutung der Dinge erkennt,
eigentlich erst wirklich Mensch. Und der Künstler, besonders der bildende
Künstler, der sich vor allen anderen dieses zur Aufgabe gemacht hat, stellt den
Gipfel des Menschentums dar. Vor allem muss der Mensch sich unbedingt davor
hüten, nur den materiellen Wert der Dinge anzuerkennen. Die materialistische
Einstellung beschreibt Rilke mit dem Wort “Besitz”. Der Mensch soll ganz arm
werden, so arm wie Franz von Assissi, von dem das letzte “Buch von der Armut
und dem Tode” erzählt, der “zu seiner großen Armut so erstarkte, dass er die
Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging vor des Bischofs Kleid”. Dieses
ist der Sinn der Armut, die Rilke in diesem Buch und auch im Malte Laurids Brigge beschreibt. Es gibt
zwei Arten von Armut, eine negative, für welche die Fortgeworfenen von Paris
ein Beispiel sind, die nicht besitzen, aber auch keinen inneren Sinn erkennen,
die aber nach Rilke trotzdem ein echteres Dasein haben als die Materialisten,
und dann die positive Armut, für die der Heilige Franz von Assissi und der
Maler van Gogh als Beispiele genannt werden, und die “ein großer Glanz von
Innen” geworden ist. Es muss jedoch im Sinn behalten werden, dass diese Armut
nicht asketischer Art war und nicht weltentsagend, sondern gerade das
Gegenteil. Sie bedeutet allein, dass der Mensch seine Umwelt nicht äußerlich,
sondern innerlich verstehen soll.
Es gibt in
der Hautptsache zwei Arten, wie Dinge innerlich verstanden werden können: sie
können entweder als Kunst oder als Symbol Bedeutung haben. Wenn man grob einteilen
will kann man sagen, dass Rilke in seiner ersten Schaffensperiode vor allem das
Kunstding beschäftigt, dann nach einer Krise, die auf den Abschluss des Malte folgte, der symbolische Gegenstand
wichtiger wurde. Bei Rilke reicht diese Vergeistigung des Dinges manchmal sehr
dicht ans Absurde heran, besonders, wenn er zum Beispiel versucht, an einem
Gebrauchsgegenstand das Wesen des einstigen Besitzers abzulesen. Den meisten
Menschen wird es jedoch auch merkwürdig erscheinen, wenn sie die Dinge ihrer
Umgebung als Symbole oder als Kunstgegenstände betrachten sollen. Derjenige,
für den die natürliche Beziehung zu den Menschen und zum Leben noch gesund
erhalten ist, wird sich fragen, warum er die materiellen Dinge seiner Umgebung
nicht als Materie behandeln, gebrauchen und besitzen soll. Diese ganze
Weltanschauung kann allein im Zusammenhang mit den Verhältnissen, die unsere
moderne industrielle Zivilisation mit sich brachte, verstanden werden. Nur
durch die kolossale Überbetonung materieller Sachen, zu der sie Anlass gibt
dadurch, dass man in einer Umgebung von Dingen lebt und sich dauernd mit der
Herstellung, der Beförderung, oder dem Verkauf von Gegenständen beschäftigt,
die nicht aus der freien Erfindung hervorgehen und für das eigene Leben sinnlos
sind und weder unsere Phantasie noch unsere Bedürfnisse befriedigen, wurde
diese intensive Auseinandersetzung mit der dinglichen Welt nötig.
Auch die Zeit
hat sich im modernen Leben selbständig gemacht. Hatte sie früher einen
allgemein organischen Charkter, so hat sie heute mathematischen Charakter. Zeit
war früher der Rhythmus von Schlafen und Wachen, sie war Säen, Reifen, Ernten
der Saat, die Lebensspanne eines Menschen, die Regierungszeit eines Königs,
oder die Entwicklung vom Anfang bis zum Niedergang, die ein Volk durchmachte.
Heute wird sie allgemein in Zahlen ausgedrückt und mit der Uhr gemessen.
Dadurch, dass sehr oft auch nachts gearbeitet wird, fügt sich der
Lebensrhythmus des Menschen nicht mehr unbedingt in den von Tag und Nacht. Von
den Jahreszeiten merkt man in der Stadt wenig. Dagegen ist das Lebenstempo sehr
viel rascher geworden. Aber der Mensch, der sich nach der Uhr beeilt, kann
diese Eile gewöhnlich nur im Hinblick auf ein System, in das er wenig Einblick
hat, rechtfertigen. Auch im großen hat
diese Generation das Gefühl für eine sinnvolle Zeit verloren. Der
Forschrittsglaube, in den sich im letzten Jahrhundert der Gedanke von einer
organischen geschichtlichen Entwicklung verwandelte, ist durch die beiden
Weltkriege nachhaltig erschüttert worden.
Aber schon vorher war der Wert der Resultate, did die Technik brachte,
angezweifelt worden. Nur dadurch, dass die Zeit sich in diesem Maße selbständig
gemacht hatte, wurde es überhaupt möglich, sie wie Rilke ganz abzulehnen,
sowohl als Geschichte, die sich für ihn in die Gleichzeitigkeit alles Gewesenen
verwandelte, wie als Schicksal, das für ihn nicht mehr als eine Folge von
Zufällen war, denen sich der Mensch möglichst wenig aussetzen soll. Nur eine solche Handlung, die aus dem inneren
Müssen des Menschen entsteht und, ohne auf äußere Umstände Rücksicht zu nehmen,
direkt auf ihr Ziel hinstrebt, scheint Rilke noch sinnvoll. Der Mensch muss in
seinem Handeln autonom werden, wenn er nicht durch Zurückgezogenheit und
Einsamkeit überhaupt alle Tätigkeit vermeiden kann. Die zwei möglichen
Existenzweisen sind für Rilke entweder Passivität, wie sie der Hirt, der
Heilige und der schauende, aufnehmende Dichter besitzen, oder das Handeln in
einer eindeutigen Willensrichtung, wie es erstmalig im Wandern des Pilgers
angedeutet ist, dann im Arbeiten des Künstlers, und letztlich in der Tat des
Helden. Rilkes Auffassung vom Großstadtleben wird in dem folgenden Gedicht ganz
klar:
Die Städte aber wollen nur das ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf,
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.
Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.
Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
Das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß und sie sind klein
und ausgeholt und warten, dass der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.
C. Erlebnis der bildenden Kunst und seine Auswirkung auf Rilkes Weltanschauung und
Kunstverständnis
Die
Beschäftigung mit der bildenden Kunst begann bei Rilke schon sehr früh. Sieber
berichtet in seinem Buch über den jungen Rilke, dass dieser eine Zeitlang
geschwankt habe, ob er Maler oder Dichter werden solle. In dem frühen Gedichtband Larenopfer werden unter Gebäuden, Hausrat
und dergleichen auch immer wieder Kunstgegenstände erwähnt. Der Gedichtzyklus
“Aus dem dreißigjährigen Kriege” in Larenopfer
wurde durch eine Bilderserie angeregt. Während seines Aufenthaltes in
Florenz und Viareggio im Jahre 1898 beschäftigte sich Rilke intensiv mit der
Malerei der italienischen Renaissance und schrieb im sogenannten Florenzer
Tagebuch seine Eindrücke für Lou Andreas Salome nieder. 1898 und zwei Jahre
später war er wieder bei Heinrich Vogeler in Worpswede zu Besuch und lernte
dort die Worpsweder Künstler kennen, in deren Kreis er nach seiner Vermählung
mit Clara Westhoff ein Jahr lang lebte. Während dieser Zeit begann er an einer
Serie von Monographien über die dortigen Künstler zu arbeiten, von der jedoch
nur die Einleitung fertig wurde. Ende August 1902 kam Rilke dann nach Paris mit
dem Auftrag, ein Buch über den Bildhauer Rodin und seine Kunst zu schreiben. Von
dieser Zeit an steht viele Jahre das Erlebnis der bildenden Kunst im
Vordergrund.
I Wesenserfassung des Kunstwerks als Gestalt
und formale Auswirkung des neuen
Formbewußtseins auf Rilkes Kunst
Malerei und
Skulptur unterscheiden sich namentlich in drei Punkten von anderen
Kunstrichtungen. Sie sind unabhängig von der Zeit, sowohl in der Form wie auch
im Inhalt. Ein Dichtwerk , eine musikalische Komposition oder ein Tanz sind auf
ein Nacheinander von Worten, Tönen oder Bewegungen angewiesen, und können nur
in der Zeit dargebracht werden. In der
bildenden Kunst ist das ganze Werk gleichzeitig vorhanden. Es ist deshalb auch
immer nur möglich in der Darstellung einen einzigen Augenblick aus der Zeit
herauszugreifen, wobei es dem Künstler überlassen bleibt, einen Bezug zum
Vorher durchscheinen zu lassen, wie zum Beispiel in der Historienmalerei, dem
Augenblick Allgemeingültigkeit zu geben, wie im Portrait, oder aber wie in der
impressinistischen Skizze die Einmaligkeit des Moments zu betonen.
Die Notwendigkeit,
auch schon das Modell unabhängig von der Zeit zu sehen, sagte Rilke zu. Ein
zweites Merkmal der bildenden Künste ist, dass sie nur visuelle Eindrücke
wiedergeben können. Ein drittes Merkmal,
das schon erwähnt wurde ist, dass Gegenstände der bildenden Künste, vor allem
Skulpturen, als Dinge betrachtet werden können und so ein Teil der ständigen
Umgebung des Menschen sein können.
Rilke suchte
in Paris Zuflucht vor der Unpersönlichkeit der Großstadtwelt nicht in der
Gemeinschaft mit Menschen – er lebte möglichst einsam und zurückgezogen -, auch
nicht in der freien Natur, die in seinen Briefen und Gedichten wenig erwähnt
wird, sondern bei der Kunst. Er lebte bei Rodin umgeben von Bildwerken; nicht
nur in den Ausstellungshallen von Meudon sah er sie, sie schmückten auch sein
Zimmer aus und standen draußen im Garten. In der Stadt besuchte erdann die Museen und verbrachte ganze Tage dort. Er
besah sich immer wieder die alten stilechten Gebäude, wie die gotischen Dome
und die königlichen Paläste. Er erlebte die Parks mit ihren Wegen, Brunnen,
Brunnenfiguren, Rasenplanen, Teichen, Alleen, Balustraden und Altanen als eine
Natur, die vom Menschen zum Kunstwerk angeordnet worden war und deren
natürliches Leben nun in den Dienst einer menschlichen Ausdeutung getreten war.
Die Stadt konnte ihm auch Kunstgegenstände in reichem Maße bieten, und dies
wird einer der Hauptgründe für Rilkes Liebe zu Paris gewesen sein.
II Erlernen einer neuen künstlerischen Haltung
dem Objekt gegenüber
Es gibt zwei Hauptmomente
in Rilkes Kunsterlebnis in Paris. Er lernte das Wesen des Kunstwerks zu
erfassen, insofern es Gestalt ist, und er lernte die Haltung des Künstlers
seinem Material und seinem Modell gegenüber. Rilke wurde bei Rodin eigentlich
zum ersten Male auf Form aufmerksam. Es ist oft etwas abfällig gesagt worden,
dass sich Rilke in Paris einfach auf das Nacherleben von Kunst beschränkt habe.
Dies ist nur sehr bedingt richtig. Unter Nacherleben versteht man im
allgemeinen ein Nacherleben des Inhaltes, besser des Gehaltes. Wenn Rilke die
Kunst Rodins nur nacherlebt hätte, dann hätte er sich vielleicht von Rodins
Menschenbild beeinflussen lassen. Aber es machte in der Tat fast gar keinen
Eindruck auf ihn. Er sah Rodins Statuen im Grunde nur insoweit als sie Form
waren, aber die Erkenntnis der Form
wurde ihm zu einem metaphysischen Erlebis. Was dies genau bedeutet lässt sich am besten
erkennen, wenn man Rilkes Dingerlebnis in Analogie zu Goethes Naturerlebnis
sieht.
Goethe hatte
bei seinen naturwissenschaftlichen Studien scheinbar das Grundgesetz alles
natürlichen Lebens entdeckt. Es gibt
zwei große Triebräder aller Natur, schreibt er 1828 an von Müller, die mit den
Begriffen Polarität und Steigerung zu kennzeichnen sind, “jene der Materie,
insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen insofern wir sie geistig denken,
angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in
immerwährendem Aufsteigen”. Polarität fand er in der abwechselnden Ausdehnung
und Zusammenziehung des Blattes, die das Wachstum der Pflanze bestimmen. In der
Farbenlehre erklärt er, wie Farben physikalisch aus einer Mischung von Licht
und Finsternis entstehen, sich für das menschliche Auge in Komplementärfarben
gruppieren, die das Auge anerkennt, indem es als Reaktion auf eine starke Farbe
den farbigen Schatten einer Komplementärfarbe auf einen neutralen Hintergrund projiziert. Psychologisch wirkt sich die Polarität der
Farben so aus, dass die Farben, die sich im Farbkreis gegenüberliegen, in
entgegengesetzte Stimmungen versetzen. Die Plus-Farben, Gelb bis Gelbrot
stimmen regsam, lebhaft, strebend, die Minus-Farben, Blau bis Blaurot, erregen
unruhige, weiche, sehnende Empfingungen.
Die Steigerung der Plus- und Minus-Pole im Purpur bewirkt eine
Kombination und Steigerung der eben genannten Empfindungen, in einem Gefühl von
großer Kraft und Würde. So ist also
diese Gesetzlichkeit auf verschiedenen Ebenen der Natur anzutreffen, der physikalischen, der biologischen
und der psychologischen. Darüberhinaus war für Goethe das Licht ein
kosmisch-göttliches, uranfängliches Prinzip und als solches auch physikalisch
unteilbar. “Man hat ein Mehr oder Weniger, ein Wirken - ein Widerstreben, ein
Tun – ein Leiden, ein Vordringendes – ein Zurückhaltendes, ein Heftiges – ein
Mäßiges, ein Männliches - ein Weibliches überall bemerkt und genannt; und so
entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis
anwenden und benutzen mag”, schreibt Goethe im Vorwort zur Farbenlehre. “Dieses
Gesetz ist in allem Realen als Ideal vorhanden und insofern wird jeder
Einzelfall Symbol für alle Fälle. Die Lehre von den chemischen
Wahlverwandtschaften kann symbolisch auf die Beziehung zwischen Menschen
angewendet werden. In diesem Roman ist Polarität auch zu einem Stil- und
Formprinzig geworden.”
Goethe fand
den Schlüssel zu einem Verständnis der Welt in der Naturwissenschaft, Rilke in
der Kunstwissenschaft. Das Rodinbuch und die Briefe aus der ersten pariser Zeit
erweisen sich hier als sehr aufschlussreich. Rilke erkannte zwei Momente im
Kunstwerk, Form und Idee, die er in der Vorstellung von Kontur und Mitte schematisierte,
oder genauer genommen: im Kreis, als der perfekten Kontur, und Mitte. Das
Kunstding – der Name betont die Verbindung von Materiellem und Ideellem – wurde
für Rilke ein Urphänomen und konnte deshalb auch für Natürliches, Menschliches
und Göttliches Symbol werden. Die Gegensatzpaare, die sich in dieses Schema
einfügen ließen, waren etwa folgende: Außen und Innen, Materie und Geist,
Einsamkeit und Wesentlichkeit, Isoliertheit und Verbundenheit mit dem All,
Begrenztheit und Freiheit, Geschlossenheit und Geöffnetsein, Vollendung und
Unendlichkeit. Im Zusammenspiel dieser Gegensatzpaare wird jeweils Perfektion
erlangt.
In der Kunst
müssen sich Form und Idee das Gleichgewicht halten; nur so wird Schönheit
möglich. Im menschlichen Leben muss ein jeder seine notwendige Einsamkeit
hinnehmen, der besitzenden Liebe zum anderen entsagen, um sich selbst ganz
wesensgerecht zu entwickeln; nur in einer solchen Entsagung ist Sittlichkeit.
Schuld entsteht, sowie man diese Einsamkeit durchbrechen will.
In diesem
Zusammenhang werden die Beschreibungen der Kunstgegenstände, die Rilke im Rodinbuch
und in den ersten Briefen aus Paris gegeben hat, verständlich:
Das plastische Ding gleicht jenen Städten der alten Zeit, die ganz in
ihren Mauern
lebten; die Bewohner hielten deshalb nicht den Atem an und die Gebärden
des Lebens
brachen nicht ab.
Der große Kreis muss sich schließen, der Kreis der Einsamkeit in der ein
Kunstding seine Tage
verbringt.
Was die Dinge
auszeichnet, dieses ganz-mit-sich-Beschäftigtsein, das war es was einer
Plastik ihre Ruhe gab; sie durfte nichts
von Außen verlangen oder erwarten, sich auf nichts beziehen, was draußen lag,
nichts sehen, was nicht in ihr war. Die Bewegung geht innerhalb der Dinge vor
sich, gleichsam als innerer Kreislauf.[2]
Rilke
beschreibt das Mit-sich-Gesättigtsein, die Unabhängigkeit, das vollkommene
Gleichgewicht des Dinges. Er vergleicht
es an einer Stelle mit einer Insel. Auch das Thema der Plastiken deutet er mit
Vorliebe von der Form her, wie er sie als Grundprinzip für das Leben im
allgemeinen erkannte. So heißt es zum
Beispiel: “Immer wieder kam Rodin bei seinen Akten auf dieses
Sich-nach-innen-Biegen zurück, dieses angestrengte Horchen in die eigene
Tiefe.” [3] Die
Gebärde spiegelt die Geschlossenheit der Plastik. Rilke deutet auch mit
Vorliebe die Gestalten als einsame Menschen. Die Victor Hugo Statue beschreibt
er folgendermaßen: “Victor Hugo ist hier der Verbannte, der Einsame von
Guernesey, und es ist eines von den Wundern dieses Denkmales, dass die Musen,
die ihn umgeben, nicht wie Gestalten wirken, die den Verlassenen heimsuchen;
sie sind im Gegenteil seine sichtbar gewordene Einsamkeit.”[4]
Der Künstler fasst in seinem Werk viele Augenblicke zusammen und konzentriert
sie um eine innere Mitte. “Aus allen Weiten ihres Wesens sind diese Menschen
zusammengeholt, alle Klimaten ihres Temperamentes entfalten sich auf den
Hemisphären ihres Hauptes.” [5][6]
Auch die
Weite, die Unendlichkeit der Idee, beschreibt Rilke gleichnishaft. Sie wird ihm,
zum Beispiel, an einer Statue deutlich, die Rodin den “Verlorenen Sohn” nannte,
die nun aber, man weiß nicht woher, sagt Rilke, auf einmal den Namen “Prière”
hat. “Und sie wächst auch über diesen hinaus. Das ist nicht ein Sohn, der vor
dem Vater kniet. Diese Geste – eine Geste der Anrufung ohne Grenzen – macht
einen Gott notwendig, und in dem, der sie tut, sind alle, die ihn brauchen.
Diesem Stein gehören alle Weiten; er ist allein auf der Welt.” [7]Ähnlich
erzählte er in einem Brief, wie er auf einem Spaziergang durch Rodins Garten
mit dem Hausherrn an einen Hügel gekommen sei, “auf dem in fanatischer
Einsamkeit ein Buddha-Bildnis ruht, die unsägliche Geschlossenheit seiner
Gebärde unter allen Himmeln des Tags und der Nacht in stiller Zurückhaltung
ausgebend.” “C’est le centre du monde”,
sagte ich zu Rodin. [8]
Man erkennt den Keim zu dem Gedicht “Buddha in der Glorie”. Auch der Marmor
selbst spiegelt die Unendlichkeit des Kunstwerkes. Rodin bemüht sich, die Luft
an die Oberfläche seiner Statuen heranzuziehen. “Der Marmor scheint nur der
feste fruchtbare Kern zu sein, und sein letzter leisester Kontur schwingende
Luft.” [9] Die
Fülle der Gleichnisse, mit denen Rilke immer wieder die wesentlichen
Strukturmomente des Kunstwerkes hervorhebt, machen den Charme dieses Buches
aus. Als eine dichterische Verherrlichung der Kunst ist es von einmaliger
Schönheit und Subtilität. Ob es darin gelingt, die Kunst Rodins im besonderen
zu charakterisieren, muss dahingestellt bleiben. Zusammenfassend
charakterisiert Rilke das Wesen des Kunstwerkes in seiner metaphysischen
Bedeutung in der folgenden Briefstelle: “Das Ding ist bestimmt; das Kunstding
muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit
entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben ist es dauernd geworden, fähig
zur Ewigkeit. So ist das eine stille und
steigende Verwirklichung des Wunsches zu sein, der von allem in der Natur
ausgeht. Damit fällt der Irrtum, der die
Kunst zu dem willkürlichsten und eitelsten Gewerbe machen wollte, aus; sie ist
der demütigste Dienst und ganz getragen von Gesetz.” [10]
Diese Zeitlosigkeit, die jedem Kunstwerk bis zu einem gewissen Grade eignet,
indem alle Kunst etwas Fertiges hat, an dem nichts mehr geändert werden kann,
erstreckt sich, wie schon gesagt, in der bildenden Kunst auch auf den Inhalt,
und so konnte diese in besonderer Weise vorbildlich werden. Rilke sucht zu
dieser Zeit die Unvergänglichkeit des Kunstwerkes in ihrer Unabhängigkeit von
der Zeit und nicht in ihrer Überzeitlichkeit.
III.
Darstellung der skizzierten Entwicklung an einzelnen Gedichten
In einem Gedicht,
das wohl in den ersten pariser Jahren entstand, wird die Dualität von irdischer
Begrenztheit und alldurchdringender ewiger Einsamkeit im Geistigen an der Natur
erfahren.
Abend
Der Abend
wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand
von alten Bäumen hält;
du schaust: und
von dir scheiden sich die Länder,
ein
himmelfarbenes und eins, das fällt;
und lassen dich
zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so
dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so
sicher Ewiges beschwörend
wie das, was
Stern wird jede Nacht und steigt –
und lassen dir
(unsäglich zu entwirren)
dein Leben bang
und riesenhaft und reifend
so dass es, bald
begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein
in dir wird und Gestirn.
Die kosmische
Natur der großen Räume mit ihren Sternen und Sonnen wird Rilke während der
nächsten Jahre in zunehmendem Maße zum Erlebnis. Der Stern wird mehrfach als
symbolische Umschreibung für die innere Form verwendet. In der schweren
künstlerischen Krise, die Rilke nach dem Abschluss des Malte Laurids Brigge durchmachte, wendet er sich schließlich von
den Kunstgegenständen ab und sucht Form und Raum am gestirnten Nachthimmel zu
erfahren. An der Natur wird ein tieferes und reiferes Gefühl möglich, als es
der vom Menschen erschaffene Gegenstand zu erwecken vermochte.
Es bleibt nun
noch übrig zu fragen, inwiefern das neue Formbewusstsein sich formal auf Rilkes
Kunst auswirkte: Er wird auf das Medium seiner Kunst aufmerksam; er lernt den Wert des Wortes kennen; und er
beginnt Stilmittel wie Reim und Assonanz, Rhythmus und Wiederholung bewusst als
Strukturmittel zu gebrauchen und nicht mehr nur als Gefühlserreger. Seine
Sprache wird dichter. Es kommen keine Bilder mehr vor, die nur atmosphäre-schaffend
sind.
Die
eigentliche Gemeinsamkeit mit der bildenden Kunst zeigt sich aber darin, dass
Rilke die Zeit als Strukturmittel, soweit dies in der Literatur auch nur
möglich ist, aus seiner Dichtung ausschließt. Solche angestrebte wenn auch
unvollkommene Zeitlosigkeit findet man schon in den frühen Dichtungen. In Die weiße Fürstin schien zwar alles in
einer magischen Zeit vor sich zu gehen, aber die Entwicklung dieses
dramatischen Gedichtes hing letzten Endes doch von einem Ereignis in der Zeit
ab: Die Fürstin hat jahrelang auf das Kommen ihres Geliebten gewartet.
Schließlich kommt er. Dass sie passiv bleibt und nicht aus dem Raum dieser
magischen Zeit in die Aktivität der äußeren Welt ausbricht, ändert aber nichts
daran, dass das Gedicht erst aus diesem Ereignis, das im Geist immer schon
gegenwärtig war, seinen Sinn und die Möglichkeit der künstlerischen Form
gewinnt. In der Lyrik war es leichter, Themen zu finden, die kein Nacheinander
brauchten. Die Dinge existierten dort ihrem Wesen nach unabhängig von der Zeit.
Aus Legenden ließ sich, zum Beispiel, ein Augenblick herausgreifen. Und wenn
Rilke Szenen beschrieb, aus denen er die Bewegung völlig bannen wollte,
brauchte er öfters den Kunsttrick, sie mit einem Bild zu vergleichen und so das
Statische zu unterstreichen: “Angeordnet wie von einem Maler” oder “In
Spiegelbildern wie von Fragonard”. Wo ein Ding, das in sich unbeweglich ist,
beschrieben wird oder die Situation, wie in dem Gedicht “Der Panther”, in die
Struktur des Dinges eingepasst wird, haben diese Gedichte eine geradezu monumentale
Geschlossenheit der Form. Aber dort, wo die Zeit nicht aufgehoben wird, sondern
in eine magische Zeit verwandelt, scheint der Inhalt oft über die Grenzen der
Form hinauszufließen. “Die Flamingos” wäre ein Beispiel hierfür, auch “Das
Karussell”, wo sogar mit Pünktchen auf die Offenheit der Form hingewiesen wird.
Geschlossenheit oder Vollendetheit als Formprinzip findet man also nicht immer
und unbedingt.
An dem Roman Malte Laurids Brigge wird sehr deutlich,
dass Rilke bei Rodin nicht eine Geschlossenheit lernte, wie sie die Klassik
kannte, als Entwicklung zu einem Endpunkt der Höhepunkt, Zusammenfassung und
Lösung des Themas ist, sondern Rilke übernahm stattdessen von ihm die
Zuständlichkeit des in der Skulptur Dargestellten als Formprinzip. Der Roman ist kreisförmig um den Charakter
des Malte angeordnet, der sich im Laufe des Romanes nicht entwickelt, oder
besser, das Werk ist strahlenförmig um diesen ruhenden Mittelpunkt
aufgebaut. Rilke gibt sich die
größtmögliche Mühe, im Leser alles Bewußtsein der Zeit zu zerstören. Er springt
ohne erkärenden Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit, er fügt alle
Arten von Motiven aus der Geschichte in den Roman ein, ohne sie irgendwie
direkt auf eine verbindende Erzählung oder auf den Hauptcharakter zu beziehen.
Das Vergangene ist Malte in der Erinnerung gegenwärtig und wird aus dieser
Perspektive heraus dargestellt; die Probleme und Ängste der Kindheit kehren im
Leben des Erwachsenen wieder, nur mit neuen Situationen verknüpft. Eine Zukunft
ist dadurch unmöglich gemacht, dass Malte nicht handelt, sondern nur leidet,
und sein geistiger Zustand sich zwar intensiviert aber nicht wesentlich ändert.
Die Form der eingefügten Erzählungen ist fragmentarisch, wie auch von der Lebensgeschichte Maltes nur
kaum zusammenhängende Fragmente erzählt werden. Hierin unterscheidet Rilkes
Roman sich grundsätzlich von, zum Beispiel, Goethes Wanderjahren. Goethe wendete
dort eine ähnliche Methode an, indem er die zeitlichen Zusammenhänge
zurückstellt und mit eingefügten Erzählungen konzentrische Kreise um die
Hauptmotive legt, aber bei Goethe ist jede Erzählung und auch die Romanhandlung
selbst in sich abgerundet. Im klassischen Sinne ist dagegen die Form des Malte nicht geschlossen.
Neben dem
Wesen der Form lernte Rilke auch manches über die Haltung des Künstlers und die
Art, wie er zu schaffen habe am Beispiel des bildenden Künstlers. Das
Schlüsselwort hier ist Sachlichkeit.
Schon im Wort
ist die Entwicklung angedeutet, in der Rilke hier steht. Sachlichkeit ist eine
Haltung gegenüber etwas, das unbestreitbar Tatsache ist. Die Sachlichkeit
verwandelt das, mit dem sie sich beschäftigt, in eine Sache, in Seelenloses. Es
ist die Haltung des Naturwissenschtlers, dem es nur auf Dinge ankommt, die mit
Sinnen wahrgenommen werden können.
Während wenn es um Gerechtigkeit geht, nur das persönliche Interesse
zurücktritt und die Bezogenheit auf den Menschen und eine transzendentale
Wirklichkeit bleibt, tritt in der Sachlichkeit der transzendente Mensch mit
seinen Ansprüchen überhaupt zurück.
In der
Literatur waren es besonders die Naturalisten, die Sachlichkeit zu ihrem
Schagwort machten. Der Schriftsteller kann durch sein Medium des Wortes,
obgleich nur auf indirektem Wege, alle Sinneseindrücke übermitteln, aber
darüber hinaus kann er auch Gedanken mitteilen. Beim Lesen von naturalistischen
Romanen oder Dramen hat man dagegen nicht selten das Gefühl an den analytischen
Stellen, einen volkswirtschaftlichen, psychoanalytischen oder politischen
Bericht, bei den Beschreibungen, ein Inventar and bei den Gesprächen, eine Tonbandaufnahme
zu hören; aber dadurch, dass uns der Gegenstand möglichst vollständig
wiedergegeben wird, wirkt er oft fast so lebendig wie die Wirklichkeit, die uns
täglich umgibt. Im Gegensatz zum Literaten kann der Maler nur Eindrücke für das
Auge wiedergeben. Wenn er sich nicht bemüht durch die Wahl seines Stoffes, die
Art seiner Behandlung dieses Stoffes oder seine Maltechnik einen Eindruck von
Bewegung, Lebendigkeit und menschlichen Situationen, Gefühlen und Werten zu
vermitteln, sondern nur das Gesehene wiedergeben will, dann kann es geschehen,
dass die Gegenstände, die er darstellt, gar nicht mehr lebendig auf uns wirken.
Nicht wählen und nicht deuten, sich ganz auf die Wiedergabe des Gegenstandes,
den man als Stoff vor sich hat, beschränken, nichts dazudenken – alles dies
führt in der Malerei leicht über eine Entseelung hinaus, bis zu einer Abtötung
des Gegenstandes. Es ist also von Belang, dass sich Rilke seinen Begriff von
Sachlichkeit hauptsächlich an der Malerei und nicht an der Literatur bildete.
Man kann beobachten, wie er Schritt für Schritt den Weg, den die bildende Kunst
genommen hat, nachgeht. Im Florenzer
Tagebuch lehnte Rilke die sehr humane und lebendige Kunst der Renaissance ab;
sie sei eine Frühlingskunst, die nicht zur Reife kam. Dieselbe Auffassung von
der italienischen Kunst ging in das Stundenbuch ein, und während Rilke dort
Kunst überhaupt in Frage stellt, ist es besonders die Menschlichkeit der
Renaissance, die ihn unvollkommen anmutet.
Ich habe viele
Brüder in Sutanen
im Süden, wo in
Klöstern Lorbeer steht.
Ich weiß wie
menschlich sie Madonnen planen,
und träume oft
von jungen Tizianen,
durch die der
Gott in Gluten geht.
Doch wie ich mich
auch in mir selber neige:
Mein Gott ist
dunkel und wie ein Gewebe …
Bei den
Worpsweder Landschaftsmalern begegnete ihm eine Kunst, aus der sich der Mensch
zurückgezogen hatte. Jahrhunderte lang ist die Landschaft als Schauplatz des
menschlichen Lebens, als Schmuck zur Verherrlichung religiöser Gestalten oder
als Vorwand für Gefühle mißbraucht worden, schreibt Rilke in einem Aufsatz über
die Landschaft, und die Landschaft kam nicht zu ihrem Recht. Die Worpsweder
Maler seien die ersten gewesen, die das demütige Zurücktreten des Menschen und
die Größe, Ferne und Teilnahmslosigkeit der Landschaft in ihrer Kunst
darstellten. Sie betrachteten die Bäume und die Menschen, die auf den Ebenen
standen, als einzelne Gestalten gegen
den Hintergrund des Himmels und der Ebene, als Dinge. Das Lebendig-Bewegte der
Natur trat in ihren starren Landschaften ganz zurück.
Bei van Gogh
und Cézanne,
mit deren Kunst sich Rilke besonders in den Jahren 1906-1907 beschäftigte, wurde
der Anspruch der Sachlichkeit verstärkt. Der Künstler hat alle “ererbten Vorlieben und Vorurteile” und alle “vagen Gefühlserinnerungen”
abzutun. Zu diesen gehörte der Glaube,
dass er nur schöne Gegenstände darstellen dürfe. Die Schönheit eines
Kunstwerkes sei nämlich völlig unabhängig von der Schönheit des Modells. Der
Künstler sei nicht da um äußere Schönheit zu schaffen: in der Kunst ist “sie
ist immer etwas Hinzugekommenes”. Sie wird dadurch bestimmt, wie tief der
Gegenstand erkannt worden ist und wie vollendet die Gestaltung des Erkannten
ist. Das künstlerische Anschaun muss sich so weit überwinden “auch im Schrecklichen
und scheinbar Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das mit allem anderen
Seienden gilt”. “So wenig eine Auswahl zugelassen ist, so wenig ist eine
Abwendung von irgendwelcher Existenz dem Schaffenden erlaubt.” [11]
Es ist Rilke bedeutsam, dass Cézanne Baudelaires Gedicht “La Charogne”
noch in seinem Alter ganz auswendig konnte, denn hier unterdrückt der Dichter
allen Abscheu, den das Thema normalerweise erregen würde, und sieht ganz
sachlich. Ein Gleichnis für solches Sehen wird Rilke Flauberts Erzählung von
Saint Julien l’hospitalier, der sich zu dem Aussätzigen legte und alle eigene
Wärme, “bis auf die Herzwärme der Liebesnächte” mit ihm teilte. Er erzählt die
Geschichte im Malte Laurids Brigge.
Malte versucht stets von Neuem dieses Äußerste an Selbstüberwindung zu leisten.
Aber die Aufgabe ist zu schwer für ihn, und er wendet sich immer wieder vom
gerade Erlebten ab. Er ist kein Armer im Sinne des dritten Stunden-Buches.
Cézanne
geht noch einen Schritt weiter als van Gogh. “Malen bedeutet Farbenempfindungen
registrieren und sie organisieren.” Der Maler kann nur das Sichbare darstellen
und deshalb muss alles, “was im Sehen nicht nur gesehen, sondern sehend
hinzugewußt, vorgestellt, mitgedacht oder mitempfunden wird”, als Vorurteil
gelten. Über van Goghs Bilder schreibt Rilke in einem Brief: ”Von welcher
Dürftigkeit sind auch bei ihm alle Gegenstände: die Äpfel sind alle Kochäpfel,
die Weinflaschen gehören in ausgeweitete alte Rocktaschen … Bei Cézanne
hört ihre [der Früchte] Essbarkeit auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie,
so einfach in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit”. “Diese Art der Darstellung
ist ganz entgegengesetzt der natürlichen, die sich aus der Vertrautheit mit den
Dingen (die das bloße Sehen allein nie geben kann) nicht zurückzieht.…”
“Indem sie
uns ganz auf die Erlebnisse des Auges beschränkt, verschließt sich die gesehene
Welt vollkommen unserer Einfühlung”, schreibt Sedlmayr in seiner Studie Der Verlust der Mitte über die Kunst Cézannes.
“Sie führt dazu, dass der Mensch im Gegensatz zur natürlichen Erfahrung mit den
anderen Dingen auf eine Stufe kommt. Bald darauf wird bei Seurat der Mensch wie
eine Holzpuppe, ein Mannequin oder Automat erscheinen, später wird bei Matisse
seine Gestalt keine größere Bedeutung mehr haben als das Muster einer Tapete,
bei den Kubisten wird er auf eine Stufe mit dem Konstruktionsmodell
herabgesetzt werden.” [12]Wie
sehr Rilke in dieser Richtung befangen war, wird später noch deutlich werden.
Im “Buch von der Pilgerschaft” schreibt er in einem Gedicht über die russischen
Heiligen, die sich in die Erde eingruben und dort in einer Welt ohne Licht und
ohne Zeit, so wie sie sich der Dichter des ersten Stundenbuchs ersehnte, “wie
ein fensterloses Haus” lebten. Er fragt am Ende zweifelnd:
Sind die, die
sich Verstorbenen vergleichen,
am ähnlichsten
der Unvergänglichkeit?
Ist das das große
Leben deiner Leichen,
das überdauern
soll den Tod der Zeit?
Immer wieder
rückt sein Menschbild nah an diese Grenze der Erstarrung: In der Beschreibung
der Armen im dritten Stunden-Buch, in der Schilderung der Worpsweder Menschen,
in der immer wiederkehrenden Gestalt des Blinden, in der unerhörten
Vereinfachung der Typen in dem Gedichtkreis “Die Stimmen”, in der Gestalt des
Fahrenden – eine Figur, die von einem Picasso-Bild, also auch von der bildenden
Kunst entlehnt ist – und in dem Symbol der Puppe als begegnendem Du.
Aber obwohl
Rilke scheinbar die Kunstauffassung der Naturalisten und der Aestheten teilte,
war er sein ganzes Leben lang in der Kunst ein Idealist, dem es immer auf die höhere
Bestimmung des Menschen ankam. Naturalisten und Aestheten befriedigten zwar ihre
Neugier und die ihrer Leser, oder ihr Formgefühl und das ihrer Leser, aber das
Geschilderte bedeutete ihnen nichts. Es erregte höchstens rein sinnliche, körperliche
Reaktionen in ihnen, wie zum Beispiel Ekel. Auch diese sollten überkommen
werden. Es ist schwer, in einer derartigen Kunst irgendeinen Sinn zu sehen. Sie
konnte höchstens Informationen geben, die eventuell zu einem dieser Kunst
fremden Zweck zu verwerten wären. Psychologische Analyse konnte eine rein
sachliche Menschenkenntnis fördern, eine Beschreibung von miserablen Zuständen,
unter denen die Armen ihr Leben dahinfristeten, konnte vielleicht soziale
Besserung bewirken, Kunst im eigentlichen Sinne konnte hier nur aus Versehen
vorkommen; in der Theorie war dafür nicht vorgesehen. Das Resultat ist der
Erkenntnisekel des Künstlers, von dem Tonio
Kröger berichtet. Bei Rilke gründet diese Einstellung der Sachlichkeit jedoch
auf dem Glauben, dass jedes Ding, sei es was es wolle, in der
Selbstgenügsamkeit seiner Form das absolute Sein spiegelt, und somit
beispielhaft auf das Ideal, das dem Menschen vorschweben muss, hindeutet. Nicht
das Wirkliche, sondern das Wahre will seine Kunst darstellen. Trotzdem gibt es
bei Rilke Verirrungen, und einige seiner Neuen
Gedichte sind offenbar nur aesthetisches Spiel.
Rilke lernte
an der bildenden Kunst genau zu beobachten. Bis dahin hatte er sich oft in
seinen Bildern auf herkömmliche Assoziationen verlassen, die nur dazu dienten,
Atmosphäre zu schaffen. Die folgenden sehr musikalischen Verse aus dem
Stundenbuch sind ein Beispiel dafür:
Es tauchten
tausend Theologen
in deines Namens
alte Nacht.
Jungfrauen sind
zu die erwacht,
und Jünglinge in
Silber zogen
und schimmerten
in dir, du Schlacht.
In deinen langen
Bogengängen
begegneten die
Dichter sich
und waren Könige
von Klängen
und mild und tief
und meisterlich.
Die Bilder
sind hier nur als Schmuck über den Gedanken, der zugrundeliegt, gelegt. Dem
Anspruch nach ist dieser zwar ein bedeutender: Es geht um den Versuch, das
Göttliche zu erkennen. Der Bogen dieses
Gedanken kann vom Überdruss des alten Faust bis zur Mystik einer Therese von
Jesu reichen. Es ist auch vage die Rede von Jünglingen, die vermutlich in eine
Glaubensschlacht ziehen. Aber wie sehr ungemäß diesem Kampf ist es, wenn das gefährliche Ringen mit der ziellosen,
nur auf der Oberfläche zitternden Bewegung des “Schimmerns” beschrieben wird. Der “Jüngling in Silber” gehört in eine neo-romantische,
besser prä-raphaelitische Bilderwelt, die ans belanglos Kitschige grenzt. Rilke begreift das selbst und schildert seine
Kunst beschönigend aber dennoch zutreffend:
Wir holen aus den
alten Farbenschalen
Die gleichen
Striche und die gleichen Strahlen,
Mit denen Dich
der Heilige verschwieg.
Wir bauen Bilder
vor dir auf wie Wände;
so dass schon
tausend Mauern um dich stehn.
Denn dich
verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre
Herzen offen sehn.
Unter dem
Einfluß von Rodin, Cézanne und van Gogh beginnt Rilke nun , sich der Eigenart der
Dinge, die ihn umgeben, bis ins Detail bewußt zu werden. Um das genaue Sehen zu
lernen, verbringt er oft Stunden und Tage vor demselben Gegenstand, ganz wie
ein Maler oder Bildhauer vor einem Modell. Erst mit dem objektiven Schauen
erwirbt er sich die Welt des Visuellen für seine Dichtung.
III Darstellung der kizzierten
Entwicklung an einzelnen Gedichten
Wendet man
sich nun einzelnen der Gedichte dieser Zeit zu, dann wird die oben skizzierte
Entwicklung deutlicher werden. Das erste
Gedicht, das aus dem Rodin Erlebnis hervorging und eines der perfektesten ist,
das Rilke je geschaffen hat, ist “Der Panther”. Hier wird dem Dichter die Form
zum Erlebnis.
Sein Blick ist
vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden,
dass er nichts mehr hält.
Ihm ist als ob es
tausend Stäbe gäbe
und hinter
tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang
geschmeidig starker Schritte,
der sich im
allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz
der Kraft um eine Mitte,
in der betäubt
ein großer Wille steht.
Nur manchmal
schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf
-. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der
Glieder angespannte Stille –
und hört im
Herzen auf zu sein.
Kontur legt
sich hier um Kontur. Zuäußerst sind die Stäbe des Käfigs, die den Panther aus
der weiten freien Welt herausgelöst haben und in der kleinen eigenen Welt
eingeschlossen. Innerhalb dieser Stäbe kreist der Panther um eine unsichtbare
Mitte, die Kontur der Stäbe ständig nachziehend. Und sein Auge fügt sich diesem
Kreisen, erkennt die Grenze der Stäbe an
und baut durch seine Blindheit die letzte Mauer, die das Tier ganz in sich
selbst einschließt. Zu allen diesen Kreisen wird nun die Mitte gesucht. Aber der Panther fühlt sich nicht als Mitte. Er durchbricht das Gitter nicht mit seinem
Blick sondern widerholt es nur immer wieder mit seinem Gang. Dieser Gang müsste
gewollte Handlung sein, aber sein Wille ist betäubt. So ist das Tun des Tieres
ziellos und sinnlos. Und wenn sich der Blick nun doch noch einmal belebt und
ein Bild in sich aufnimmt, so findet auch dies keine Mitte mehr und vergeht im
Herzen, das es nicht halten kann, weil es verlernt hat zu fühlen und das Äußere
in Inneres zu verwandeln. Statt der beherrschenden Mitte gibt es nur noch das
Nichts.
Dies ist das
erste Gedicht, in dem Rilke wie ein Bildhauer vor der Natur arbeitet. Er ging damals wiederholt in den Jardin des
Plantes, um den Panther zu beobachten. Wie meisterhaft ist dann zuletzt der Streich,
mit dem er die Isolierung des Modells vollzieht, eine Isolierung, die dem
Bildhauer selbstverständlich ist, für den Dichter aber nicht. Dadurch, dass er hier nicht pedantisch, wie
zum Beispiel in “Die Gazelle”, wo er alle Bewegung arretiert, die Arbeitsweise
des bildenden Künstlers nachahmt, gelingt es ihm sie für sich sinnvoll zu
machen.
Das
Panther-Gedicht ist ganz aus der Beobachtung eines bestimmten Tieres in einer
bestimmten Situation hervorgegangen, und es greift in seiner Darstellung
nirgends darüber hinaus. Aber als lebendiges Symbol steht das Bild im
Knotenpunkt von Rilkes Denken zu dieser Zeit. Es steht in Beziehung zu Rilkes
Suche nach menschlicher Bedeutung in den leblosen Dingen. Auf das Menschliche
übertragen geht es um das Problem der Isoliertheit, welche zur Abtötung führen
kann, aber auf der anderen Seite auch zur wahren Einsamkeit des ganz großen
Menschen.
Das Motiv des
Gefangenseins wird in dem Gedicht “Der Gefangene” wieder aufgegriffen. Wie der
Panther, stellt auch dieser sich ganz negativ zu seiner Isolierung ein.
Meine Hand hat
nur noch eine
Gebärde mit der
sie verscheucht;
Wie der
Panther seinen Blick vom Vorübergehn der Stäbe lähmen lässt, so erlaubt auch
der Gefangene seinem Herzen, mit den Tropfen Schritt zu halten und mit ihnen zu
vergehn. Auch dieses Herz hat verlernt, eine geistige, gefühlsmäßige, seelische
Mitte zu sein; es kann die Eindrücke nicht mehr verwandeln, sondern ist nur
noch ihr Echo oder ihr Spiegel. Gott wird vom Gefangenen nicht mehr im Herzen
gesucht, nicht mehr im Geistigen und Unendlichen, sondern im bloß Äußeren, als
das, was die Ummauerung völlig undurchdringlich macht, als das Auge des
Wächters, das das letzte Loch ausstopft: die vollendete Grenze. Das was er
einmal innerlich erlebt hatte, die Erinnerungen, veräußerlichen sich auch. Sie
gelangen in rasende, irre Bewegung, die schließlich in sinnloses und
seelenloses Gelächter ausbricht. Die Zeitlosigkeit, die im Geistigen zum
höchsten Sein der Vollendung werden kann, steht hier ganz unter dem Zeichen des
körperlichen Verfaulens.
Und was jetzt in
dir morgen heißt und: das
und : späterhin
und nächstes Jahr und weiter –
das würde wund in
dir und voller Eiter
und schwäre nur
und bräche nicht mehr an.
Dieser Mensch
ist nur noch Gefangener, nicht mehr ein transzendentes Wesen. Seine
Verdinglichung und Vertotung wird bis ins letzte Detail beschrieben. Es ist hier
eine Entwicklung zu Ende geführt, die schon in der Vorstellung der
Nicht-Reichen das Stunden-Buches
angelegt war und die Malte in seinen Begegnungen mit den Armen von Paris immer
wieder wie ein Alpdruck überfällt.
Es ist
interessant, die beiden Gedichte, die “Der Gefangene” überschrieben sind, mit
dem vermutlich sechs Jahre früher entstandenen Gedicht aus dem Buch der Bilder, “Die Blinde”, zu
vergleichen. Hier erzählt ein junges Mädchen von ihrer Erblindung. Wie der Gefangene bei seiner Einkerkerung,
erlebt auch die Blinde den Verlust der Welt, die durch ein undurchdringliches
Dunkel ersetzt wird. Das Erblinden war für sie wie ein Tod.
Die damals sah,
die laut und schauend lebte,
die starb.
……….
Die
Welt
die in den Dingen
blüht und reift,
war mit den
Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen
(schien mir) ….
Auch hier
kommt der Vergleich des Wundseins vor, “Am ganzen Leibe war ich wund”, aber es
wird in einem ganz anderen Licht dargestellt, eher als eine Sensitivität, die
sie überempfänglich für die Regungen ihrer Umwelt macht. Die Blinde fühlt, wie
der Gefangene, dass sich die Weite der Welt, die sie sonst umgab, nun plötzlich
in erdrückende Enge gewandelt hat.
Der Raum ist
eingefallen. Nimm den Raum
mir vom Gesicht
und von der Brust.
Auch die
Menschen sind ihr durch dies Erlebnis entfremdet. In der ersten Zeit ihres
Blindseins sucht sie verzweifelt die alte Welt wiederzugewinnen; sie fleht um Licht,
um Tag, um die Dinge der Welt, um den Kontakt zu anderen Menschen. Schließlich
beruhigt sie sich und nimmt ihre Einsamkeit und ihre Weltlosigkeit hin. Sie ist
nun so ganz in sich selbst beschlossen, dass niemand mehr zu ihr finden kann.
Nichts ist mehr
mit mir verbunden.
Ich bin von allem
verlassen. –
Ich bin eine
Insel.
Der Fremde:
Und ich bin über
das Meer gekommen.
Die Blinde:
Wie? Auf die
Insel? … Hergekommen?
…….
Ich bin eine
Insel und allein.
Ich bin reich. –
Auch der Blinden
scheint erst alles aus dem Herzen fortzugehn – alle Gefühle, das was sie ist –
aber schließlich wuchs ihr der Weg zu den Augen zu.
Jetzt geht alles
in mir umher,
sicher und
sorglos; wie Genesende
gehn die Gefühle,
genießend das Gehn,
durch meines
Leibes dunkles Haus.
Dieser blinde
Mensch hat seine Grenze anerkannt und sie innerlich überwunden. Rilke deutet
das in diesem Zusammenhang als die Überwindung des Todes, und die letzten
Zeilen des Gedichtes scheinen die Blinde schon in einer jenseitigen Welt des
Seins zu sehen. Zumindest einen Teil ihres Todes hat sie schon überwunden, den
Tod der Augen. Das, was sie jetzt noch wahrnimmt, wird nicht mehr als Gegenüber
erlebt; sie ist frei von Welt, frei von der Zeit, innerlich unabhängig von
anderen
Menschen , ihr Handeln ist ohne jedes Ziel, ohne Neugier auf Sachen, die die Menschen
betreffen. Sie ist der positive Gefangene. Dies wird sehr deutlich, wenn man
die eben zitierte Strophe mit einer aus dem anderen Gedicht vergleicht.
Und das was war,
das wäre irre und
raste in dir
herum, den lieben Mund,
der niemals
lachte, schäumend von Gelächter.
Ein ähnlicher
Übergang vom Leben durch das Sterben hindurch ins Sein wird in “Der Schwan”
symbolisch geschildert. Das Leben ist
Mühsal, Unvollendetheit, Ungeschaffenheit, weil es immer noch von der Zukunft
abhängt und deshalb immer noch etwas zu tun bleibt. Im Sterben wird der Grund,
auf dem das Tun und Handeln stattfindet, preisgegeben. Es ist ein “ängstliches
Sich-Niederlassen”, wie auch das Erblinden etwas Schreckliches war, aber es
leitet über zur Freiheit und zum vollen Besitz seiner selbst. In dem schönen
Bild der Spur im Wasser, die “wie vergangen” hinter dem Schwan auf dem Spiegel
des Sees liegt, wird jene Gleichzeitigkeit, in der Vergangenheit und Zukunft
sinnlos geworden sind, angedeutet:
Diese Mühsal,
durch noch Ungetanes
schwer und wie
gebunden hinzugehn,
gleicht dem
ungeschaffnen Gang des Schwanes.
Und das Sterben,
dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf
dem wir täglich stehn,
seinem
ängstlichen Sich-Niederlassen - :
in die Wasser,
die ihn sanft empfangen
und die sich, wie
glücklich und vergangen,
unter ihm
zurückziehn, Flut um Flut;
während er
unendlich still und sicher
immer mündiger
und königlicher
und gelassener zu
ziehn geruht.
In “Der
Blinde” wird das ideale Empfangen geschildert, das das Äußerliche schon gleich
wie etwas Inneres mit dem Gefühl aufnimmt, nicht als Welt, die gegenübersteht
und zum Handeln zwingt, sondern in kleinen Wellen. Auch wo er menschliche Hilfe
nötig hat, nimmt der Blinde die führende Hand des anderen nicht als totes
Werkzeug an, das ihm zu einem Ziel zweckdienlich ist, denn er kennt solche
Ziele, die außerhalb seiner selbst stehen, nicht mehr, sondern er vollzieht die
Verbindung mit seinem ganzen Wesen, wie ein Mensch sich dem anderen darbringt
und ihn ganz entgegennimmt, wenn er mit ihm die Vermählung eingeht. Auch im Malte wird der völlig gesetzmäßige
Wandel des Blinden als etwas Positives dargestellt.
In diesem
Zusammenhang muss man “die Frucht des Todes”, die jeder in sich reifen soll,
verstehen, von der im letzten Stunden-Buch
immer wieder die Rede ist. Der Mensch, der den “großen Tod” in sich trägt, hat
in gewisser Weise das Sterben schon hinter sich, wie der Blinde. Sein Wesen hat
schon teil and dem idealen Zustand, der uns im Tode erwartet, wo weder Zeit
noch Welt in Betracht kommen. Es ist im Grunde die Fähigkeit, das Leben als
einen langen erfüllten Augenblick hinzunehmen, als etwas Selbstgenügsames,
Harmonisches, das in sich vollendet ist. Nur wenn Welt und Schicksal auf solch
eine zeitlose Mitte hin gelebt werden, haben sie bleibenden Wert. Im “Buch von
der Armut und vom Tode” ist der Tod die innere geistige Mitte, und die Armut
die symbolische Umschreibung der äußeren Grenze, der Isoliertheit,
Besitzlosigkeit, im tiefsten Sinne Weltlosigkeit. Genauer, ist Armut die Beschreibung
der Gesinnung des Menschen, der diese Grenze anerkannt hat und damit auch die
Möglichkeit, den Tod in sich reifen zu lassen. In der Beschreibung der Armut
werden deshalb vielfach dieselben Bilder verwendet, die auch als Motive in den Neuen Gedichten vorkommen oder in dem Stimmenzyklus aus dem Buch der Bilder. Der Todgebärer, von dem
hier die Rede ist, ist arm wie ein Stein, wie ein fortgeworfener Leprose, wie
ein Bettler, wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen in einer Zelle ewig ohne
Welt. Und was ist gegen diesen “tiefsten Mittellosen”, den “leisen
Heimatlosen”, “das lange stille Traurigsein von Tieren, die man als
Eingefangene vergaß?”
Im Stunden-Buch, bis hinein in den Malte, spielt jedoch die Vorstellung der
Armut eine wichtigere Rolle, als die des “großen Todes” der, wenn er auch
offensichtlich die positive und transzendentale Seite der Armut sein soll – um
einen von Rilke beliebten Ausdruck zu gebrauchen, der “Ausguß” der Hohlform der
Armut – doch immer eine etwas nebelhafte Konzeption bleibt, die sich schwer auf
eine wirklich Situation beziehen läßt. Der Akzent liegt bei Rilke zu dieser
Zeit ganz auf der Grenze und den verschiedenen Möglichkeiten, die der Mensch
hat, sie entweder positiv oder negativ zu werten. Die Todesvorstellung ist
vorläufig ein noch unausgenutztes Potenzial, das erst in einer späteren
Schaffensperiode Rilkes, mit dem Komplex, der sich um die mythische Gestalt des
Engels bildet, voll ausgewertet werden kann. Dort wird dann das Ideal des
Dinges, genauer des Kunstdinges, durch den Engel ersetzt. Dies Schwenken von
äußerer zu innerer Gestalt machen auch die symbolischen Menschengestalten mit.
Der Bettler, der Blinde und der Arbeiter, alle von ihrer Grenze aus gedachte
Gestalten, machen in steigendem Maße solchen
auch schon im Frühwerk angelegten Figuren wie dem Liebenden, dem Helden der
eine absolute Mission erfüllt, dem Frühverstorbenen und dem Sänger platz.
Der dritte
Kreis des Panther-Gedichtes, das ziellose Kreisen um eine betäubte Mitte, wird
von dem in alle Anthologien aufgenommenen Gedicht “Das Karussell” noch einmal
zum Thema gemacht:
Und das geht hin
und eilt sich, dass es endet,
und kreist und
dreht sich nur und hat kein Ziel.
In “Karussell”
sind in dieser kreisenden Bewegung die verschiedensten Tiere und Kinder
befangen. Die bunten Pferde mit Mut in den Mienen, ein Böser roter Löwe, ein
Hirsch ganz wie im Wald, und immer dann und wann ein weißer Elephant. Aus allen
Erdteilen kommen diese Tiere, die seltsam inkongruent zu einander passen. Der
Ausdruck, den sie in ihrer erstarrten Haltung tragen, ist nur Gebärde, kein
Gefühl, und ist in dieser Umgebung sinnlos, wie denn auch die Kinder, die
diesen Tieren von ungefähr als Reiter gegeben sind, keine Rücksicht darauf
nehmen:
mitten in dem
Schwunge
schauen sie auf,
irgendwohin, herüber –
Es gibt hier
keinen Zusammenhang. Alles ist in der ewigen Monotonie eines ziellosen Treibens
begriffen. Und trotzdem schenken die Kinder manchesmal “diesem atemlosen,
blinden Spiel”, atemlos sowohl in seiner Leblosigkeit und Seelenlosigkeit, wie
in seiner rastlosen Eile, ein Lächeln, “ein seliges, das blendet und
verschwendet” heißt es im Gedicht. Dieses Lächeln gilt keinem Lebensinhalt.
Aber vielleicht kann es gerade deshalb so losgelöst vom Irdischen und so selig
sein. Das Kind auf dem Karussell ist ganz für sich, in einem ewigen Einerlei
befangen, und da bei Rilke Einsamkeit und Zeitlosigkeit die Bedingungen für das
höchste Sein sind, obwohl sie auch in sich die Gefahr der Erstarrung tragen,
ist gerade unter diesen Umständen auch das unbedingte Lächeln möglich. Und es
gelingt gerade dem Kind, diesem Wesen, das noch nicht, wie der Erwachsene, in
allem nach Zukunft und Vergangenheit fragt, sondern die Fähigkeit besitzt, ganz
dem Augenblick hingegeben zu leben. Das
Streben, ausschließlich in der Gegenwart zu leben, erinnert an das
Gegenwartsideal der Klassik. Dass Spiel und Kunst bei Rilke eng
zusammengehören, wird noch an späterer Stelle deutlich werden.
Wenn man “Das
Karussell” liest, wird man unwillkürlich an die fünfte der Duineser Elegien erinnert, wo von den Fahrenden die Rede ist. Auch
dort findet man sinnloses, seelenloses Tun und vollkommen beherrschte Form ohne
Gehalt. Die Zirkusleute scheinen ein Spielzeug zu sein, aber wessen Spielzeug?
Wer sind sie überhaupt, diese Menschen “die dringend von früh an wringt ein
wem, wem zu Liebe niemals zufriedener Wille”. Einst hatte zwar ihr Tun noch
Sinn zu einer Zeit, wo es ein Teil kultischer Handlungen war. Da waren sie, wie
der Dichter sagt, das Spielzeug eines Leides, das noch klein war. Aber heute?
In dieser Situation, die nun zwar im Vergleich mit dem Karussell-Gedicht
ungeheuer vertieft ist - vertieft durch körperlichen Schmerz und unerwiderte
Liebe - ist es wieder einzig und allein das Kind, das so von Vergangenheit und
Zukunft absehen kann, das sich selbst so sicher besitzt, dass es unbeirrt von
dem Schicksal, in dem es befangen ist, dennoch in einem Augenblick so rein und
erfüllt fühlen kann, dass es jenes Lächeln zustandebringt, das des Engels würdig ist. Aber für alle die,
die ihre Kindheit schon hinter sich haben, bleibt eine derartige Existenz
schwer erreichbar. Kann ein Mensch, der sich einmal der Zeit bewusst geworden
ist, dieses Bewußtsein je wieder ganz verlieren? Zur Zeit der Dinggedichte
scheint Rilke noch etwas Derartiges zu hoffen. Später weiß er, daß es nur in
seltenen, begnadeten Augenblicken möglich ist.
Noch ein letztes
Gedicht, in dem es vor allem auf die Kreisform ankommt, sei hier erwähnt. Es
ist “Die spanische Tänzerin”, eines von zwei Gedichten, in denen Rilke versucht,
das reine Kunstwerk im Bild des Tanzes zu beschreiben. Von dem zweiten, einem der Sonette an
Orpheus, wird später noch gehandelt werden. In dem erwähnten Gedicht werden die
zwei Momente des Kunstwerkes, von denen schon die Rede war, veranschaulicht:
die Form und der innere Sinn oder Gehalt.
Die Form bleibt
sich gleich, immer vollkommen und ganz geschlossen, ein beharrliches Kreisen.
Dies ist hier jedoch alles andere als Monotonie; aus dem Kreisen wächst als
Kern die Flamme des Gehalts, die sich mit der Gesetzmäßigkeit des
Naturgeschehens zu einem leuchtenden Höhepunkt entwickelt, bis sie allmählig herabbrennt
und die Künstlerin sie schließlich selbst mit großer Bestimmtheit austritt und
löscht. Mit virtuoser Genauigkeit hat Rilke die Bewegungen des Tanzes diesem
Bilde angepasst.
Wie in der Hand
ein Schwefelzündholz, weiß,
eh es zur Flamme
kommt, nach allen Seiten
zuckende Zungen
streckt -: beginnt im Kreis
naher Beschauer
hastig, hell und heiß
ihr runder Tanz
sich zuckend auszubreiten.
Und plötzlich ist
er Flamme, ganz und gar.
Mit einem Blick
entzündet sie ihr Haar
und dreht auf
einmal mit gewagter Kunst
ihr ganzes Kleid
in diese Feuersbrunst,
aus welcher sich,
wie Schlangen die erschrecken,
die nackten Arme
wach und klappernd strecken.
Und dann: als
würde ihr das Feuer knapp,
nimmt sie es ganz
zusamm und wirft es ab
sehr herrisch,
mit hochmütiger Gebärde
und schaut: da
liegt es rasend auf der Erde
und flammt noch
immer und ergiebt sich nicht -.
Doch sieghaft,
sicher und mit einem süßen
grüßenden Lächeln
hebt sie ihr Gesicht
und stampft es
aus mit kleinen festen Füßen.
Auch dieses
Gedicht spricht von Vergänglichkeit, aber wichtig ist nur die Geformtheit,
Natürlichkeit und Beherrschtheit des Kunstwerkes, hier in der Gestalt des Tanzes.
b) Ausdeutung des Kunstwerks auf den
Menschen hin
In den
Gedichten, die bis jezt behandelt worden sind, hatte Rilke im allgemeinen die
Situation des Menschen zur Form vereinfacht. Das Gegenstück dazu bildet eine
Gruppe von Gedichten, in denen umgekehrt vom Kunstwerk auf das Menschentum
gedeutet wird. Vornehmlich die Apoll-Gedichte, die jeweils die beiden
Sammlungen der Neuen Gedichte
eröffnen, gehören hierzu. Apoll ist das Sinnbild jener Kunst, die Rilke zu
dieser Zeit anstrebte, nach Nietzsches Bezeichnung eine Apollinische Kunst,
ganz Gestalt, Klarheit, Gegenwart. Später in der Sammlung, die am ehesten als
Gegenstück zu the Neuen Gedichten
gelten kann, in den Sonetten an Orpheus,
huldigt er dann dem dionysischen Gott des Gesanges. Im ersten dieser Gedichte,
“Früher Apoll”, wird die schmucklose, fast kahle Einfachheit einer jener frühen
griechischen Plastiken beschrieben, in denen die Vision des Künstlers noch
unerhört viel stärker ist, als seine Möglichkeiten, ihr Ausdruck zu geben. Die Form ist starr, wie die noch unbelaubten
Bäume im Vorfrühling, aber die Idee, die Sonne, ist schon eine Frühlingssonne,
und das ungemilderte Licht trifft das Auge fast tödlich. Wie in der Plastik dieses Bildhauers eine
erhabene Vision ungenügenden Ausdruck findet, so ist auch der Sonnengott als
Dichter hier noch vor allem Anfang gesehen. Er hat noch nichts geschaffen, sein
Blick ist noch leer von Welt, es ist kein Schatten in seinem Schaun, und der
Lorbeer, der nur dem zuteil wird, der auch sein Handwerk beherrscht, und dessen
Vorbedingungen das Wirken innerhalb der Welt und der Einfluss auf andere
Menschen ist, ruht noch nicht auf seiner Schläfe. Dieser Apollo ist noch ganz
kosmische Gewalt, nicht irdische Schönheit. Sein Dasein gleicht dem des Kindes,
das sich der Welt noch nicht bewusst ist, oder auch dem des Gottes, der über
aller Welt steht. Das Lächeln, Zeichen der seligen Selbstgenügsamkeit, ist ihm
eigen, aber noch nicht das Singen, in dem der bewußte Mensch auf einen
Augenblick das Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umwelt, die Vereinigung
von Subjekt und Objekt, erlebt. Die Gestalt des Sängers wurde Rilke erst später
bedeutsam. Zu diesem Zeitpunkt war ihm der Dichter noch Diener der Dinge, die
erst später in seinen Dienst trete würden. Vorläufig bedeutetet ihm Schaffen
vor allem Weltwerdung des Geistes; später wurde es Geistwerdung der Welt. Klar kommt dies in den abschließenden Versen
im Gedicht “Die Spitze” zum Ausdruck:
Ein Leben ward
vielleicht verschmäht, wer weiß?
Ein Glück war da
und wurde hingegeben,
und endlich wurde
doch, um jeden Preis,
dies Ding daraus,
nicht leichter als das Leben
und doch
vollendet und so schön, als sei’s
nicht mehr zu
früh, zu lächeln und zu schweben.
In dem
zweiten Apollo-Gedicht, “Archaischer Torso Apollos” ist diese gewissen Unreife
und Unfertigkeit, die die letzte Einheit von Wesen und Ausdruck noch nicht
erreicht hatte, überwunden.
Wir kannten nicht
sein unerhörtes Haupt,
Darin die
Augenäpfel reiften.
Man denkt bei
diesen Zeilen an das frühere Gedicht, in dem es hieß, dass der niegebrauchte
Mund das Singen noch nicht gelernt habe, das sich das Schauen noch nicht zur
Blüte entfaltet habe, noch nicht gereift war, um dem Munde die Möglichkeit des
Ausdrucks zu geben. Für Rilke war die Erfahrung, die Paris bracht, vor allem
die, dass Kunst nicht ohne Können möglich sei, dass aber Können auf einer
genauen Kenntnis der Dinge dieser Welt beruhe. Wie der frühe Apollo vor allem Anfang stand,
in der ersten Naivität des Kindes oder des Jünglings, so hat dieser Apollo, wenn
man so sagen darf, die zweite Naivität erreicht. Das Aufnehmen und Aussprechen der Welt kommt
für ihn nicht mehr in Frage. Es hätte zu
einer früheren Zeit gehört, in der sein Bild noch ganz dem lebenden Menschen
glich. Nun ist nur noch die Mitte des Menschtums,
um die sich einst die handelnden Glieder gesammelt hatten, erhalten, nur noch
das Unweltliche, das Wesentliche. Rilke schreibt an einer Stelle in seiner
Rodin-Arbeit, dass in diesem Zeitalter, das so laut und unecht geworden sei,
das wahre Menschtum nicht mehr in den Gesichtern, sondern in den vor der
äußeren Welt verhüllten Leibern zum Ausdruck käme. Das sei die Tragik unseres
Jahrhunderts, dass sie im handelnden Menschen keine Wahrheit mehr findet. In
diesem Apoll hat sich das Schauen, das einst die Welt suchte, nach innen
gewendet. Man könnte von einem “angestrengten Schauen in die eigene Tiefe”
sprechen. Es existiert hier eine Einigkeit mit sich selbst, die Rilke später gerne mit dem Symbol des
Narziss veranschaulichte, und die auch den Engeln zugeschrieben wird, wenn es
von ihnen heißt, dass sie Spiegel sind “die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen
zurück in das eigene Antlitz.” Die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerks ist nicht
Stillstand, sondern das Wechselspiel von Hineinnehmen und Ausstrahlen, in dem
die Strömungen sich das Gleichgewicht halten. Das befriedigte Lächeln geht zu
der Mitte hin, die die Zeugung trug, es bezieht sich auf das besitznehmende,
befruchtende Prinzip im Menschen. Die Plastik nimmt Besitz von der Luft, vom Licht,
vom Raum: sie flimmert und das Licht, das sie fängt, bricht von ihr aus, wie
ein Stern. Wie Rilke an anderer Stelle schreibt, dass jedes Kunstwerk der
Mittelpunkt der Welt sei, ein neuer Mittelpunkt, um den die Welt sich neu
ordnen muss, so wird es hier etwas, in dessen Licht dem Betrachtenden alles neu
und anders erscheinen muss. Das Gedicht endet mit den Worten: “du musst dein
Leben ändern”.
In den beiden
Apollo-Gedichten kommt das Erlebnis zum Ausdrduck, das später im Engel zur
mythischen Gestalt wurde. Auch hier fühlt Rilke bereits, dass das Schöne
“nichts als des Schrecklichen Anfang” ist. Es ist fast tödlich.
so ist in seinem
Haupte
nichts was
verhindern könnte, dass der Glanz
aller Gedichte
uns fast tödlich träfe –
heißt es im
Gedicht vom frühen Apollo, und die zweite Elegie beginnt mit den Worten:
Jeder Engel ist
schrecklich. Und dennoch, weh mir,
ansing ich euch,
fast tödliche Vögel der Seele,
wissend um euch.
Fast tödlich
ist das Erlebnis der Schönheit, weil es an das Mysterium einer Vollkommenheit
anrührt, die im irdischen Leben einfach undenkbar und unmöglich ist. Das Leben
des Menschen, das in allem Sein und Wirken solche Vollkommenheit als höchstes
Ziel vor Augen haben muss, ist der Tragik unterworfen, dass es wie die Motte,
die vom Licht angezogen wird, verbrennen muss, wenn es schon im Irdischen seinem
Ziel zu nahe kommt. Um diese Achse bewegt sich Rilkes Lebenskampf. Es ist zu beachten, dass Rilke diese beiden
Gedichte an den Anfang seiner beiden Sammlungen gestellt hat. Die Kunst dieser Jahre steht im Zeichen der
Apollo-Gestalt, als Kunstwerk, als Mensch und als Gott, so wie die Elegien im
Zeichen des Engels stehen. Die Schönheit
des Kunstwerkes als symbolhafte Andeutung eines Absoluten ist jedoch um vieles
erträglicher, als das Absolute, schlechthin Unmögliche, das der Engel
verkörpert. Das erstere ist noch etwas, das das Leben beeinflussen kann; das
zweite ist rettungslos zerstörend. In
den Neuen Gedichten wird das Ideal
der Kunst eigentlich noch nicht direkt auf den Menschen bezogen. Dazu musste es erst von dem spezifischen Feld
der Kunst abstrahiert werden. Das Menschenbild wird dort noch von der Grenze
her bestimmt.
Dieser
Schritt der Loslösung des Wertes vom Gegenstand geschieht im letzten Gedicht
der zweiten Sammlung, Der Neuen Gedichte
Anderer Teil. “Buddha in der Glorie” handelt von der Apotheose der Kunst. Hiermit
beginnt für Rilke eine neue Schaffensepoche.
Mitte aller
Mitten, Kern der Kerne,
Mandel, die sich
einschließt und versüßt, -
dieses alles bis
an alle Sterne
ist dein
Fruchtfleisch: Sei gegrüßt.
Sieh, du fühlst,
wie nichts mehr an dir hängt;
im Unendlichen
ist deine Schale,
und dort steht
der starke Saft und drängt.
Und von Außen
hilft ihm ein Gestrahle,
denn ganz oben
werden deine Sonnen
voll und glühend
umgedreht.
Doch von dir ist
schon begonnen,
was die Sonnen
übersteht.
c)
Übernahme weiterer Elemente aus der bildenden Kunst
Es ist bis
jetzt von Form und Mitte, oder Idee, des Kunstdinges, wie Rilke sie als Urphänomen
erlebte, gesprochen worden. Rilke ging
jedoch noch weiter und versuchte auch andere Elemente der bildenden Kunst für
seine Konzeption der Dichtung fruchtbar zu machen. Zu diesen gehören Kompositiion, Linie und
Farbe. Komposition und Linie können als
eine Erweiterung des Formgedankens betrachtet werden. Die Bedeutung der Farbe
ist problematischer. In Bezug auf Rilkes Verdichtung solcher Mittel der
bildenden Kunst hat man manchmal das Gefühl, dass er im Banne einer fremden
Kunst stehe.
Die
Komposition ist das Thema der beiden Gedichte “Die Gruppe” und “Der Balkon”. In
der künstlerischen Komposition werden verschiedene, sonst einzelne Teile auf
eine innige und sinnvolle Weise miteinander verbunden. Da Rilke den Menschen
als wesentlich isoliert und einsam in der Welt sah, konnte ihm der Formaspekt der Komposition
nicht eigentlich für das Wesen des Menschen aufschlussreich werden. Er konnte
höchstens ein bedeutungsvolles Nebeneinander von grundsätzlich Verschiedenem
gelten lassen. So sieht er in Rodins
Gruppe Die Bürger von Calais vor
allem die Einsamkeit der Gestalten, die ein zufälliges Geschick zu diesem
gemeinsamen Weg gesammelt hat. Das, was die Menschen zusammenbringt, ist immer
der Zufall; zusammengehalten werden sie sonst durch nichts. Den Zufall rechnet
Rilke zu dem fahrenden Zirkusvolk. Sein
Tun ist reine Artistik.
Als pflückte
einer rasch zu einem Strauß:
ordnet der Zufall
hastig die Gesichter,
lockert sie auf
und drückt sie wieder dichter,
ergreift zwei
ferne, läßt ein nahes aus, …
und so
weiter, sinnlos, ziellos, ohne Dauer. Rilke
hat nie im Schicksal eine höhere Fügung erkannt, sondern immer nur den Zufall.
In einem der Briefe aus Muzot heißt es: “Ich nenne Schicksal alle äußeren
Ereignisse (Krankheiten zum Beispiel einbegriffen), die unvermeidlich eintreten können, eine Geistesdisposition
und Erziehung, einsam durch ihre Natur, zu unterbrechen und zu vernichten.” [13]“Der
Balkon” schildert eine Gruppe von fünf Menschen, die “wie von einem Maler”
angeordnet zu sein scheinen. Rilke beschreibt die Einzelnen, zuerst die beiden
Schwestern, dann den Bruder, die Greisin und das Kind, als eine fortschreitende
Steigerung des Motivs der Einsamkeit. Die Schwestern sind aneinandergelehnt.
Sie berühren sich noch mit den Körpern, aber ihre Seelen sind einsam, und ihr
Sehnen nacheinander ist ohne Aussicht auf Erfüllung. Sie lehnen an einander,
“Einsamkeit an Einsamkeit”. Der Bruder kennt dieses Streben über sich hinaus
zum anderen Menschen schon nicht mehr. Er ist “zugeschlossen”, aber seine
Selbstbegrenzung ist poitiv, denn wie
der Held der sechsten Elegie, kennt er seine Sendung, er ist “voll Geschick”.
Nur in der Ähnlichkeit mit der Mutter bekundet sich noch eine Beziehung zu den anderen:
die Blutsverwandtschaft, die ihn an seine Ahnen bindet. Die Greisin ist längst
mit keinem mehr verwandt. Während der Bruder nur schweigend und zugeschlossen
war, aber noch nicht weltabgewandt, ist sie unzugänglich. Ihr Gesicht ist eine
hohle, leblose Maske, das wie ein Ding fallen würde, wenn die Hand es nicht
aufhielte. Sie ist die abgelebte Hülle, ohne Geschick und ohne Sein. Nach ihr
kommt dann noch das Kinderangesicht:
das das Letzte
ist, versucht, verblichen,
von den Stäben
wieder durchgestrichen,
wie noch
unbestimmbar, wie noch nicht.
Es hat sich
noch gar nicht als Individualität begriffen, und hat deshalb weder geistige
Gestalt, wie etwa der Bruder, noch körperliche wie die Greisin; es hat sich
noch nie nach anderen Menschen gesehnt. Es ist das Kind, bevor die Menschen es
gezwungen haben, “dass es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offene….” nach
den Worten der achten Elegie. Es ist allein, ohne zu wissen, was Einsamkeit
ist.
Eine Linie zu
zeichnen, rein um ihrer selbst willen, scheint das Gedicht “Die Anfahrt”. Erst
kommt eine Kurve, die der Weg vorschreibt, die die Wendung des Wagens
nachzieht, den Blick wiederholt und deren Rundung sich auch noch in den
barocken Engelfiguren zu halten scheint. Dann führt der Weg gerade durch den
Schloßpark hindurch, bis er vor dem Tor abermals zu einer Schwenkung gezwungen
wird, nach der der Wagen steht. Aus der Glastür des Schlosses zum Wagen herab
gleiten als doppelte Linie der Lichtreflex und der Windhund, die, indem sie der
ersten Linie entgegenkommen, diese abschließen. Schwenkung, Fahrt durch den
Park, wieder Schwenkung, freier Blick, der dann aber durch die Bäume gehemmt
wird, um kurz vor dem Tor doch wieder frei zu werden, ist der symmetrisch
dreiteilige Rhythmus der ersten Linie.
Sie wird von der Bewegung der Augen –annehmen, halten, und wieder lassen
– aufgenommen, und dann andeutungsweise in dem Blick erst über den Friedhof in
die Erinnerung und Vergangenheit und dann nach dem Weg durch den Park, der nichts
als Gegenwärtiges zuläßt, zur Erwartung der Ankunft. Im letzten Teil des
Abschlusses und der Erfüllung stehen sich Tor und Tür gegenüber, und durch sie
hindurch vollzieht sich Bewegung und Gegenbewegung. Rilke genießt hier
Gleichmaß und Symmetrie aber ohne ihnen eine psychologische oder metaphysische
Bedeutung beizumessen. Das Gedicht ist nicht mehr als ein aesthetisches Spiel.
In “Der Ball”, wird dann die einfache Linie des Steigens und Fallens gezeichnet,
das aktive Streben des Geistes in den Raum hinaus und das passive Angezogensein
des Körpers von der Erde, beides, der Wille und die Dinghaftigkeit in der runden
Form des Balles enthalten. Hier hat die Linie wieder eine sinnvolle Funktion
and das Gedicht symbolischen und nicht nur aesthetischen Charakter.
Es müssen
hier noch kurz einige Gedichte erwähnt werden, in denen Rillke von der Farbe
ausgeht. Eines der schönsten ist “Rosa Hortensie”:
Wer nahm das Rosa
an? Wer wusste auch,
dass es sich
sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter
Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich
sanft, wie im Gebrauch.
Dass sie für
solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie
und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es
zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht,
großmütig wie ein Duft?
Oder vielleicht
auch geben sie es preis,
damit es nie
erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem
Rosa hat ein Grün
gehorcht, das
jetzt verwelkt und alles weiß.
In dieser Blume,
die sich noch bevor sie verwelkt, entfärbt, steigert sich auf kurze Zeit die
Farbe zu einer unerhörten Intensität. Es ist ihr Augenblick der Vollkommenheit,
der reinen Erfüllung, in dem sie über ihr irdisches und vergängliches Dasein
hinaus der ewigen Welt des Engels würdig ist. Wie auch der Mensch seine seligen
Augenblicke überdauert, macht das Rosa der Blume einem Grün platz, an dem sich
dann der naturgemäße Ablauf des langsamen Sterbens vollzieht. Anders als andere
Blumen, bei denen die schönste Blüte ein notwendiger Teil der organischen Entwicklung
ist, übertrifft die Farbintensität, zu der sich eine seltene Hortensie
steigert, alle Erwartungen.
In der
“Landschaft” versucht Rilke die Farbe als das ordnende, erlösende und
beruhigende Prinzip, als das, was die willkürliche Wirklichkeit zu einer
künstlerischen Vollkommenheit verwndelt, darzustellen. Man liest dieses Gedicht
am besten als eine Stimmungsbeschreibung. Im Grunde eignet sich das Motiv
besser für einen Maler als für einen Dichter.
Dass Rilke zu
dieser Zeit seine Umwelt oft ganz mit den Augen des Malers sah, wird an den
folgenden Beispielen deutlich:
An der Ecke des
einen der schwarzen Einschnitte, die von der Via Roma …. abzweigen, sah ich
gestern den Verkaufsstand eines Zitronenwasserhändlers. Pfosten, Dach und
Hintergrund seiner kleinen Bude waren blau (von dem bewegten, nach Grün zu sich
abstumpfenden Blau gewisser türkischer und persischer Amulette); es war Abend,
und die der Rückwand gegenüber angebrachten Lampen bewirkten, dass alles andere
sehr entschlossen vor diese Farbe hingestellt war; und zwar: das von einem
Wasserüberzug ständig überglittene Erdbraun der Tonkrüge; das Gelb einzelner
Zitronen und schließlich das glatte, verglaste, immer wieder umgewandelte Rot
in mehreren großen und kleinen Goldfischgläsern. Das war ja stark, zu deutlich möglicherweise,
aber doch immerhin bemerkenswert. Van Gogh wäre dazu zurückgekehrt. –
Vielleicht sehe ich das alles weil ich seine Briefe gelesen habe. [14]
Ein Motiv
dieser Art ist jedoch für die Dichtung untauglich.
d) Begründung und Charakterisierung
der Dinglyrik
Rilke ist
nicht er erste Dichter, der Dinggedichte geschrieben hat. 1819 entstand die
berühmte Ode von Keats “Ode on a Grecian Urn” und fünfundzwanzig Jahre später
Mörikes Gedicht “Auf eine Lampe”. Die Gedichte sind sich ähnlich. Keats beschreibt
das Bild auf der Urne. Es stellt eine idyllische Szene dar: blumige Täler in einer
anmutigen Landschaft – ist es das schöne Tal Tempe, oder sind es die
Traumgefilde Arkadiens? – Liebende in der vollen Schönheit ihrer Jugend ,
glühend von noch ungestillter Leidenschft, ein Priester, der das geschmückte
Opfer zum Altar führt. Schönheit, Liebe, Andacht vereinen sich auf diesem Bild,
und der Künstler hat sie alle in dem Augenblick der Vollkommenheit festgehalten,
bevor das Alter, die Wollust und die blutige Opferhandlung eingesetzt haben.
Das Neue an diesem Gedicht ist, dass die idyllische Situation nicht in ein
Paradies verlegt ist, wie etwa bei Dante, auch nicht in einer naturnahen Vergangenheit
gesucht wird, wie bei Rousseau, sondern im Kunstwerk. Keats verfällt nicht in
den romantischen Irrtum, das goldene Zeitalter in der Vergangenheit zu suchen,
er erhofft es auch nicht von der Zukunft, sondern sucht es in der reinen
Gegenwart. Goethe in Italien mochte hoffen, dass sich Schönheit und Harmonie im
gegenwärtigen Leben finden ließen. Noch im Helena-Akt des Faust, über dem
bereits das Gefühl der Scheinhaftigkeit und einer nur künstlerischen Realität
schwebt, liegt die Betonung auf dem Leben, der lebendigen und erlebten Kunst.
Goethe drückt hier die Einsicht aus, dass das Idyllische eine künstlerisch
gesteigerte Wirklichkeit sei. Aber die Fantasie des Künstlers erfährt im Lebendigen
das Idyllische, und die Betonung liegt noch nicht, wie bei Keats, auf dem Werk.
Schönheit ist noch wesentlich etwas, das dem Leben und nicht der Kunst eignet,
so wie auch bei Schiller künstlerische Schönheit nicht von der Form her
bestimmt ist, sondern vom anmutigen, schönen Menschen her, in dem die Kräfte
sich in einem spielenden Gleichgewicht verhalten.
Keats,
jedoch, sieht die Schönheit nicht mehr als Lebenshaltung, sondern als
Augenblick im Fluss der Zeit, den der Zufall beschert und den der Künstler im
Werk festzuhalten vermag. In einem solchen Augenblick steht die Zeit
still. Auch Mörike verherrlicht die
absolute Ruhe des Kunstwerks. Nur ganz zart angedeutet ist hier die
sehnsüchtige Ahnung, dass ein harmonisches Leben doch möglich ist oder war, in
der Kinderzeit mit seinen fröhlichen Spielen, oder in der Epoche des Rokoko mit
seiner Festlichkeit , aus der die Lampe stammt. Der immergrüne Efeukranz verbindet
sie andeutungsweise mit der Feier des Bacchus. Aber im Grunde sieht auch Mörike
die Schönheit im Kunstwerk.
Wie reizend
alles! Lachend, und ein sanfter Geist
des Ernstes doch
ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild
der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön
ist, selig scheint es in ihm selbst.
Im
achtzehnten Jahrhundert fanden der neue Naturkult und die Würdigung des
Natürlich-Lebendigen im Menschen ihren ersten Ausdruck in der Schäferidylle, die einen Zustand
schilderte, in dem Natur und Mensch friedlich beisammen waren, auf eine Art,
die in der Wirklichkeit nicht möglich ist. Das Paradies wurde vom Himmel auf
die Erde verlegt, in die Natur, die damit heiliggesprochen wurde. Eine neue
Religiosität schuf sich erst einmal den festen Grund eines sinnbildlichen
Ausdrucks, um von da aus zu einer unmittelbaren Naturfrömmigkeit zu gelangen.
In Deutschland war dieses der Pantheismus Goethes und Herders, der mit dem
Glauben, dass der Mikrokosmos des Menschen gleichgeartet sei, wie der
Makrokosmos der Natur, die Sturm und Drang Lyrik Goethes möglich machte, die
sich aus der innerlichen Gemeinsamkeit von Mensch und Natur nährt.
Die Keats “Ode
auf eine griechische Urne” und die Dinglyrik Rilkes scheinen in mancher
Hinsicht in einem ähnlichen Verhältnis zu einander zu stehen, wie Schäferlyrik
und Naturdichtung. Man muss hier freilich sehr acht geben, dass man die
Parallele nicht zu weit führt. Während der Schäfer- und Naturkult und später
die pantheistische Naturfrömmigkeit bei allen Schichten der westeuropäischen
Völker Anklang fanden, ist hier von einigen wenigen Gedichten die Rede. Aber
das Gedicht von Keats scheint trotzdem Ausdruck einer sehr allgemeinen
kulturellen Entwicklung zu sein, und der Kreuzpunkt von zwei Hauptströmungen,
die auch bei Rilke zusammenlaufen. Die erste dieser Strömungen ist das
wachsende Interesse für das Kunstwerk, und die sehr viel höhere Einschätzung
der Kunst, die schon zu Zeiten der Klassik begann, und dann auch des
Kunstgewerbes in den Wiener Werkstätten und der Bauhaus-Bewegung . Man findet
sie auch bei den Philosophen Schopenhauer und Nietzsche und sie macht sich in
der allgemeinen Entwicklung der künstlerischen Wissenschaften bemerkbar. Die
zweite zeitgeschichtliche Ströming ist ein Lebensgefühl, das sich schon im
Barock anbahnte und bei den Impressionisten mit neuer Stärke ausbrach, welches
nur noch im einmaligen Augenblick einen absoluten Wert erkannte. Keats
schildert in seinem Gedicht die Idylle des Augenblicks, im Gegensatz zur Idylle
des ewigen Lebens im Paradies und der des natürlichen Lebens auf der Erde, und
er stellt sie mittels der Statik des Kunstwerkes, genauer noch des Kunstdinges,
also in der Dauer des einmal Geschaffenen dar. In beiden Gedichten ist das
beschriebene Ding ein Sinnbild, insofern als die Dichter in ihm sehnsuchtsvoll
eine Möglichkeit ahnen, die sie jedoch nicht unmittelbar miterleben. Beide
Gedichte haben die Form eine Anrede; es besteht also ein nostalgischer Abstand
zwischen Dichter und Gegenstand.
Ich habe am
Anfang dieses Kapitels beschrieben, wie Rilke im Kunstding, was auch immer es
darstellen mochte, eine direkte Beziehung zum metaphysischen Wesen des Menschen
erkannte. Der Mensch und das Ding waren ihrer Struktur nach gleich, und so
konnte eines Sinnbild des anderen werden. Aber dadurch, dass diese Parallelität
bestand, war auch die Möglichkeit eine gefühlsmäßigen Verschmelzung beider
gegeben, so wie für Goethe der pantheistische Gedanke eine gefühlsmäßige
Verschmelzung mit der Natur ermöglichte und dann später auch den Grund für
seine naturwissenschaftlichen Studien bot. Rilke erwarb sich so die
Möglichkeit, das auszuführen, was er Gott im ersten Stunden-Buch gelobt hatte:
Ich will die
Dinge so wie keiner lieben,
bis sie dir alle
würdig sind und weit …
Es kommt eine
neue Lyrik zustande, anders als die, die aus der Liebe zu einem anderen
Menschen hervorging und anders als die, welche eine Naturliebe zum Impuls
hatte. Es ist eine Dinglyrik.
Ich gebrauche
das Wort lyrisch hier in einem engen Sinn, um die rein gefühlsmäßige Erfassung
des Gegenstandes zu bezeichnen, die Staiger als Erinnerung oder Verinnerung
charakteristiert. Während man in einem weiten Sinne eigentlich alle die Gedichte
Rilkes, eingeschlossen die Duineser
Elegien, die Staiger nach Art der Erfassung ihres Gegenstandes wohl eher
Pathetisch-dramatisch nennen würde, in die Gattung der Lyrik einklassieren
muss, möchte ich das Wort hier allein für die Gefühlseinheit zwischen Dichter
und Gegenstand anwenden und beschreibende, verehrende und kontemplative
Elemente ausschlißen. Bei weiten nicht alle der Neuen Gedichte sind in diesem Sinne lyrisch. Es kommt hier auf die besondere Stimmung an,
die die Verschmelzung mit dem als Ding erfassten Gegenschaft schafft. Zur
Dinglyrik in diesem Sinne rechne ich nicht nur Gedichte wie “Die Treppe der
Orangerie”, die wirkliche Dinge beschreiben, sondern alle in denen die ruhende,
vollendete Form im Gegenstand beschrieben wird, so dass “Der Panther”, “Die
Insel”, “Das Karussell”, “Römische Fontäne” und “Buddha in der Glorie” alle als
Dinggedichte gelten müssten. Unter diesen Gedichten ist vielelicht “Römische
Fontäne” die reinste Lyrik und lässt am stärksten die besondere Stimmung
spüren, an der auch die anderen Gedichte mehr oder minder teilhaben.
Vielleicht
war hier eine besonders innige Erfassung des Gegenstandes dadurch möglich
gemacht, dass Rilke einen Gegenstand vor sich hatte, der nicht erst arrangiert
und gedeutet werden musste, sondern in sich schon vollendete Form war. Darüber
hinaus hatte Rilke immer schon die Brunnen und Fontänen der Parks besonders
geliebt. Ihr Wasserspiel als zarteste und flüchtigste aller Bewegungen ist ein
Lieblingsmotiv der frühen impressionistisch empfundenen Lieder, wie auch ihr traumhaftes
Rauschen, das längst vergangene Märchen zu erzählen scheint. Im Buch der Bilder versucht Rilke eine
erste Deutung der Fontäne, ganz aus dem Gefühl heraus. Ihre Struktur und die
Gesetzmäßigkeit ihrer Bewegung wird hier noch nicht erkannt.
Aus unendlichen
Sehnsüchten steigen
endliche Taten
wie schwache Fontänen,
die sich zeitig
und zitternd neigen.
Aber, die sich
uns sonst verschweigen,
unsere fröhlichen
Kräfte – zeigen
sich in diesen
tanzenden Tränen.
Er hatte die
Fontäne also schon mit dem Gefühl erfasst, bevor er sie als Ding sehen lernte.
Aber erst als Ding ist sie nicht mehr nur Gleichnis, sondern Gegenstand in
ihrem eigenen Recht.
Römische Fontäne
Zwei Becken, eins
das andre übersteigend
aus einem alten
runden Marmorrand,
und aus dem oberen
Wasser leis sich neigend
zum Wasser,
welches unten wartend stand,
dem leise
redenden entgegenschweigend
und heimlich,
gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter
Grün und Dunkel zeigend
wie einen
unbekannten Gegenstand;
sich selber ruhig
in der schönen Schale
verbreitend ohne
Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal
träumerisch und tropfenweis
sich
niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten
Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln
macht mit Übergängen.
Ein Gefühl
von ungestörtem Gleichgewicht und vollendeter Ruhe liegt über diesem Gedicht.
Zwei Becken steigen aus dem einen Marmorrand. Dieser selbst ist alt, ist
Ursprung, aus dem sich die einzelnen Schalen erheben, er ist runde, vollendete
Form, ungebrochene Fläche: Spiegel. Er
besitzt die Heiterkeit des Lächelns. Über diesem Rand spielt das Wasser der
beiden anderen Becken. Das obere neigt sich dem wartenden zweiten zu. Beide
wollen sie Vereinigung; das obere vollzieht aktiv die Bewegung, das untere,
schon näher dem ruhenden letzten Spiegel, harrt passiv, dem leise redenden
schweigend begegnend, auch hier auf das andere bezogen. Das zweite Becken kennt die Rede nicht mehr,
sondern nur noch das Bild. Als mittleres Becken verwaltet es das Geheimnis der
Zwienatur der Welt, die zwischen Himmel und Erde, zwischen Licht und Dunkel
liegt. Nach dem Himmel hin waren die Becken gestiegen, zur Erde zurück fällt
das Wasser. Aber mächtig ist der Zug hinunter zur ruhenden Erde, und dem
fallenden Wasser erscheint der Himmel wie ein “unbekannter Gegenstand”. Vereinigt in der mittleren Schale, kennen die
Wasser kein Heimweh mehr, nicht die Sehnsucht nach oben und nicht die nach
unten. Hier ist alles ruhige Gegenwart. Zwar gibt es immer noch Bewegung, aber
sie geht in die Breite und verliert auch nicht auf einen Augenblick die
vollendete Gestalt: Kreis formt sich aus Kreis. Die letzte Ruhe besitzt die
mittlere Schale jedoch noch nicht, und wenn sie auch von keiner Sehnsucht weiß,
so kennt sie doch den Traum eines noch tieferen Friedens. Mit einer Bewegung,
die kein Fallen mehr ist, denn im Fallen kann noch Wille und Sehnsucht liegen,
gleitet das Wasser an den Moosbehängen hinab zum letzten Spiegel. Dieser kennt
kein Bild mehr; er weiß nichts von dem doppelten Wesen der Welt und deshalb
gibt es für ihn nichts Äußeres, sondern nur noch das Lächeln, das dem Herzen
angehört. Auch Bewegung ist hier nicht mehr Form, sondern sachte Verwandlung in
Inneres, Vergeistigung, letzter Übergang zur Ruhe, welcher Seligkeit ist.
Durch das
ganze Gedicht hindurch bleibt die Form gleich vollkommen: in der Symmetrie der
Bewegung, der Vereinigung von Gegensätzen, der Geschlossenheit des Kreises, und
zuletzt im Übergang zu ganz Innerem, welches von keiner Zwiespältigkeit mehr
weiß. Hinter alledem schwebt jedoch das Mysterium des Lebens, das die Form
immer wieder scheinbar durchbricht, um sie aufs Neue zu schließen, denn Leben
ist nur in der Bewegung.
Dieses Gefühl
einerseits von harmonischem Gleichmaß, andererseits von Mysterium, verwandelt
sich im Wortklang und Rhythmus zu Musik. Der breite, ruhige sehnsuchtslose ei-Laut herrscht vor. Er durchzieht das
ganze Gedicht im Reim und beherrscht in den ersten drei Strophen einzelne der Zeilen:
Zwei Becken, eins das andere übersteigend
…
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand …
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis, …
Am stärksten
wirkt er in der letztzitierten Zeile, in der die Bewegug sich zur Form
geschlossen hat und reine Gegenwart geworden ist. Durchweg schaffen die
häufigen Nasallaute einen weichen Ton; in Kombination mit den dunklen u-Lauten – runden, Dunkel, unten – vertieft sich das
Sinnend-Verweilen zum Geheimnis. Dagegen vertreten die offenen a-Laute wieder den Anspruch des
einfachen Daseins. In den ersten beiden Strophen, in denen die Form der
Symmetrie gestaltet wird, stehen die hellen e- und ei-Laute und die
dunklen a-, o- und u-Laute in starkem
Kontrast zueinander; auch die Reimpaare kontrastieren, indem ein beweglicher
weiblicher Reim mit einem ruhenden männlichen Reim abwechselt. Sogar ganze
Klangfolgen wiederholen sich:
aus einem alten
runden Marmorrand …
zum Wasser,
welches unten wartend stand …
In den
letzten beiden Strophen besteht keine Symmetrie dieser Art mehr. Die dunklen
und hellen Töne verbinden sich immer häufiger in Umlauten, die jetzt auch in
den Reim aufgenommen sind. Die Reime wechseln nicht mehr gleichmäßig. Es kommt
ein einmaliger Ruhepunkt auf “Schale” Das Wort findet keine Antwort im Reim.
Dann machen die harten Verschußlaute der ersten Verse weichen Konsonanten
platz, und die Bewegung fließt ohne Aufenthalt sachte weiter, bis sie im
letzten Reim ausklingt. Die ruhende Form kennt weder Zeit noch Ziel, und so
gibt es in diesem Gedicht nur Partizipien mit Ausnahme des Verbums “stand”, das
ohne Bewegung ist. Auch der Rhythmus ruht: Das Gedicht bewegt sich von Anfang
bis Ende im gleichen Tempo, und auch der Tonfall bleibt sich gleich. Fast
müsste es monoton wirken, wenn die Sprache nicht in der Farbe des Klanges so
subtil variiert wäre.
Eine Stimmung
von Harmonie, Gleichmaß und Ruhe waltet über diesem Gedicht und über der
Dinglyrik Rilkes überhaupt. Die Harmonie
ist hier mit strenger Konsequenz in Form und Inhalt durchgezeichnet. Die
Stilmittel sind in allen Gedichten ähnlich gehalten, und der Rhythmus bleibt
sich gleich. Aber auch in den frühen Gedichten fand sich schon allgemein dieser
einheitliche Rhythmus, von einem oft mehrmals wiederholten Reim unterstützt.
Bei der großen Musikalität der Sprache gemahnten diese Gedichte oft an
Wiegenlieder. In den Neuen Gedichten hat
aber die strengere Form das Träumerische gebannt. Doch ist in den frühen
Naturgedichten und Liebeliedern Rilkes die Stimmung der, der Dinggedichte schon
sehr ähnlich. Von Anfang an ist das Lebendige Rilkes Gefühl fern.
Dichterisch
hat die Lyrik der Neuen Gedichte ihre
Gefahren. Alle Sprache ist ihrer Natur nach unfähig, ein Ruhendes darzustellen.
Ein Satz ohne tuendes Verbum ist ein verstümmelter Satz. Und will der Dichter
den Worten ihren natürlich-lebendigen, zielstrebigen Rhythmus nehmen, dann wird
die Sprache monoton, und alle Monotonie ist letzten Endes langweilig. Rilke
selbst scheint dies begriffen zu haben. Er hat sein Lebensgefühl später nie
mehr lyrisch, sondern nur noch pathetisch zum Ausdruck gebracht. Er hat nicht
mehr versucht, mystisch, wie im Stunden-Buch,
oder lyrisch, wie in den Dinggedichten, den idealen Zustand des ruhenden Seins
vorauszuerleben, sondern sich als ein Suchender auf dem Wege zu diesem
überzeitlichen Ziel erkannt. Er dichtete von nun ab aus dem Abstand zu seinem
Gegenstande, aber auf diese Weise konnte ihm die Sprache lebendig bleiben.
Dadurch, dass sich Rillke nunmehr als wandernder, suchender Mensch sah, wurde
es ihm möglich, die gefährliche Nähe zur bildenden Kunst zu überwinden und mit
ganzem Herzen Dichter zu sein.
D Der Weg vom Ding als metaphysischem Schema (Mitte,
Grenze) zur Gestalt des Engels
I Notwendigkeit einer Selbstbegrenzung mit
ihren Gefahren und deren Überwindung.
In den Jahren
zwischen der ersten Begegnung mit Rodin und dem Abschluß des Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge hatte sich Rilkes Lebensgefühl hauptsächlich
an der Form und der Grenze orientiert. Rilke war von Kind an, teils durch
Veranlagung, teils durch schicksalhafte Fügungen, ein kontaktloser Mensch und
als solcher ein wahrer Sohn seiner Zeit. Er scheint weder seinem Vater noch
seiner Mutter noch irgendeinem seiner Schulkameraden nahegestanden zu haben.
Die Liebe zu seiner Frau, Clara Westhoff, war nicht solcher Art, dass sie ihn
nötigte, mit ihr zusammenzuleben. Offenbar war seiner Kunst das
gemeinschaftliche Leben nicht eine Quelle der Inspiration, sondern eine
Störung. Jeder Künstler braucht Einsamkeit um schaffen zu können; aber Rilke
scheint darüber hinaus die Einsamkeit um ihrer selbst willen gesucht zu haben.
Auch die Verbindung mit den vielen Freunden, die sich mit der Zeit zu ihm
bekannten, die er als Menschen zu verstehen und zu bewundern sich bemühte und
deren Verständnis und Bewunderung er auch seinerseits zu brauchen schien – dies
war besonders bei Lou Andreas-Salome der Fall – wurde fast ausschließlich mit
Briefen aufrechterhalten. Während er
seine sehr umfangreiche Korrespondenz gerne zu erledigen schien und die
briefliche Verbindung, die er als Künstler weitgehend zu prägen vermochte,
eigentlich immer befriedigend für ihn war,
schien er ein Treffen oft zu vermeiden, und wenn es dann stattgefunden
hatte, davon enttäuscht zu sein. In den Begegnungen, die ihm fruchtbar und
wertvoll waren, erkannte er, nach den Beschreibungen in Briefen zu urteilen,
meistens in dem Begegnenden ehrfurchtsvoll einen Leidensgenossen an. Er schien
eher “den Menschen” als eine bestimmte Person in denen, deren Bekanntschaft er
machte, zu suchen. Seine Beschreibung seiner Begegnung mit der Duse ist hierfür
ein typisches Beispiel.
Die Duse, dass
ich bei ihr war, sie bei mir, auch das ist wie eine Spiegelung in der von Klarheit
überreizten Luft – können Sie sich vorstellen, wir waren wie zwei, die in einem
alten Mystere zur Handlung kommen, sprachen, wie im Austrag einer Legende,
jeder sein sachtes Teil. Ein Sinn kam unmittelbar aus dem Ganzen und ging
sofort über uns hinaus. Wir waren wie zwei Schalen und bildeten übereinander
eine Fontäne und zeigten einander nur, wieviel uns fortwährend entging. Und doch
wars kaum zu verhüten, dass wir uns irgendwie über die Herrlichkeit
verständigten, so voll zu sein, und vielleicht dachten wir auch im selben
Augenblick an den lebendigen, senkrechten Strahl, der über uns stieg und fiel
(immer nach) und uns so sehr füllte.[15]
Für Menschen,
die auf diese Weise einsam sind, die die Möglichkeit, sich im begegnenden Anderen
bestätigt zu sehen, von sich weisen, ist fast immer das Hauptproblem die Frage
danach, wer sie sind, wo der Kern ihres Wesens liegt. Sie haben nicht mehr das
Gefühl eine Persönlichkeit zu sein, denn ein Charakter bildet sich “in dem
Strom der Zeit” wie es in Goethes Tasso
heißt. Es ist das Phänomen, das Sedlmayr den “Verlust der Mitte” nennt: den
“Verlust der Ganzheit der Persönlichkeit, ‘des Herzens’ im Pascalschen Sinn,
und der synthtischen Kraft des Bewusstseins”. [16]So
ertönt schon im ersten Stunden-Buch die Klage eines jungen Bruders:
Ich verrinne, ich
verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf
einmal so viele Sinne,
die alle anders
durstig sind.
Ich fühle mich an
hundert Stellen
schwellen und
schmerzen.
Aber am emisten
mitten im Herzen.
Hier löst
sich der Mensch in Sehnsucht auf. Im Großstadtbetrieb wird der Mensch
“zerstreut”. Als Künstler fühlt sich Rilke von der Masse der Bilder und
Eindrücke, die auf ihn eindringen, überwältigt.
Er vergleicht sich mit einem hin- und hergewendeten Spiegel, aus dem
alle Bilder fallen, und an anderer Stelle mit einer Anemone “die sich nicht
mehr schließen konnte zur Nacht, und immer weiter aufnehmen mußte in den wie
rasend geöffneten Kelch, mit der viel zu vielen Nacht über sich.” Derartige
Erfahrungen nötigten Rilke zu einer sehr bewußten Selbstbestimmung, die unter
dem Einfluß Rodins und der bildenden Kunst die Form der Selbstbegrenzung
annahm. Er versuchte seine Existenz von seinem Beruf aus festzulegen, dem Beruf
des schaffenden, bildenden Künstlers. Er erlaubte sich nicht, die Welt anders
als im Sinne dieser Berufungen zu verstehen. Das was er nicht künstlerisch
verwerten konnte, schloß er möglichst aus seinem Gesichtskreis aus, denn alles
was nicht direkt in Kunst verarbeitet werden konnte, musste ihn ablenken und
zerstreuen. In der Arbeit, meint Rilke zu dieser Zeit, eignet sich der Künstler
die Welt an und gestaltet das, was unverarbeitet dem freien Geist des Menschen ein
beengendes Gefängnis sein müsste, um, so dass es stattdessen wie eine feste
Burg wird, in der er sicher und ungefährdet leben kann. Indem sich der Künstler
die Welt geistig zueignet dadurch, dass er in allem, was ihn umgibt, das
Kunstwerk erkennt und aus sich und den Dingen eine neue Welt schafft, von der
er nun nichts mehr zu befürchten hat, in der er je größer und umfassender sie
wird, desto sicherer leben kann, schafft er seinem Geiste den Weltleib, der
diesen so vollkommen hält, dass Zeit und Vergänglichkeit ihm nichts mehr
anhaben können. Alle Kunst ist Bewältigung und Verewigung, Eroberung der Welt
durch die Arbeit.
a) Der Künstler als Arbeiter und
Seher
Darin, dass
Rodin, wie auch Cézanne und van Gogh Arbeiter waren und im Leben nichts als die
Arbeit mehr kannten, sah Rilke ihre menschliche Größe. “Sein Leben geht, wie
ein einziger Arbeitstag” schreibt Rilke über Rodin. “Dieser Schaffende lebt so
sehr unter seinen Dingen, ganz in der Tiefe seines Werkes, dass er Offenbarungen
gar nicht anders erfahren kann als mit den schlichten Muitteln seiner Kunst.
Neues Leben heißt für ihn letzten Sinnes nur: neue Oberflächen, neue Gebärden.
So ist es einfach um ihn geworden, er kann nicht mehr irren. Mit dieser
Entwicklung hat Rodin allen Künsten ein Zeichen gegeben in dieser rastlosen
Zeit. Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat:
dass er ein Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz mit allen seinen
Kräften in das niedrige und harte Dasein seines Werkzeuges einzugehen. Darin
lag eine Art von Verzicht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann
er es: denn zu seinem Werkzeug kam die Welt.”[17]
b) Schwerpunktsverlagerung vom
Kunstwerk zum Schaffensakt des Künstlers
Da in der
Skulptur stets viel Zeit auf die handwerkliche Ausarbeitung der Konzeption
verwendet werden muss, kommt es dort wirklich in höherem Grade als bei anderen
Künsten auf ein Arbeiten an. Aber
insofern der Bildhauer Arbeiter ist, ist er eher Handwerker als Künstler. Für
den Künstler, den denkenden und empfindenden Menschen überhaupt, kann das Leben
nie auf die Art einfach werden, die Rilke hier beschreibt. Der echte Künstler
muss, während er schafft, in der Ahnung des Unmöglichen, Unerträglichen leben,
und wenn er versucht, sich dieser Qual und dieser Gefahr zu entziehen, hört er
auf, Künstler zu sein. Rilke hat dies
auch im Grunde immer gewusst. Jedes Kunstwerk muss des “fast tödlichen” Engels
würdig sein. Es muss im Mittelpunkt der Welt stehen und, um es dort hinstellen
zu können, muss der Künstler beim Schaffen diese ganze Welt miterleben. Der Weg der schöpferischen Gestaltung ist
nicht ruhig-heitere fleißige Arbeit, sondern ein Weg voller Gefahr. Rilke
vollendete 1925 eine Variante zu dem Gedicht “Der Reliquienschrein”, das im
zweiten Teil der Neuen Gedichte erschienen
war. Das frühere Gedicht stellt das Schaffen des Künstlers als ruhige Arbeit
dar. Bevor das Werk nicht vollendet ist, ahnt der Goldschmied noch nichts von
seiner Göttlichkeit; aber als der Schrein fertig vor ihm steht, fällt er
anbetend auf die Knie,
Seine Seele
niederschlagend
Vor dem ruhigen
Rubin,
Der ihn zu
gewahren schien
Und ihn, plötzlich
um sein Dasein fragend,
Ansah wie aus
Dynastien.
Für den
Goldschmied des späten Gedichts ist das Schaffen ein Wecken von Dämonen, die
ihn zu überwältigen drohen. Er versucht, sie zu bannen, sie in der
geschlossenen Form auf immer unschädlich zu machen, aber noch bevor ihm dies
gelingen kann, fallen sie über ihn her. Es ist die alte Geschichte des
Zauberlehrlings, der die Geister rief, ohne die magische Formel zu wissen, mit
der man sie wieder bannt.
Warte! Langsam!
Droh ich jedem Ringe
und vertroste
jedes Kettenglied:
Später, draußen,
kommt das, was geschieht.
Dinge, sag ich, Dinge,
Dinge, Dinge!
wenn ich
schmiede, vor dem Schmied
hat noch keines
irgendwas zu sein
oder ein Geschick
auf sich zu laden.
Hier sind alle
gleich, von Gottes Gnaden:
ich, das Gold,
das Feuer und der Stein.
Ruhig, ruhig, ruf
nicht so Rubin!
Diese Perle
leidet, und es fluten
Wassertiefen im
Aquamarin.
Dieser Umgang mit
euch Ausgeruhten
ist ein
Schrecken: alle wacht ihr auf!
Wollt ihr Bläue
blitzen? Wollt ihr bluten?
Ungeheuer funkelt
mir der Hauf.
Und das Gold, es
scheint mit mir verständigt;
in der Flamme hab
ich es gebändigt,
aber reizen muss
ichs um den Stein.
Und auf einmal,
um den Stein zu fassen,
schlägt das
Raubding mit metallenem Hassen
seine Krallen in
mich selber ein.
Die Kunst hat
ihrem Wesen nach an zwei Welten teil, der des Geistes und Gefühls und der der
Erscheinungen. Da sie erst in der Verschmelzung dieser beiden Welten entsteht,
kann man diese unmöglich im Werke getrennt betrachten. Aber in der Konzeption
des Künstlers kann entweder der abstrakte Gedanke erst da sein, - er muss sich
dann in der gegenständlichen Welt einen Körper suchen – oder umgekehrt, kann
der konkrete Gegenstand den Künstler ansprechen, Empfindungen in ihm wachrufen
oder ihn zur Meditation anregen. Schiller hat diese beiden Möglichkeiten in
seinem Aufsatz “Über Naïve und Sentimentaische Dichtung” ausgeführt. Die realistische
Methode, die vom Gegenstand ausgeht, ist die des naiven Menschen. Für ihn sind,
nach Schiller, die Existenzbedingungen in der Kulturwelt von heute ungünstig. Im
naiven Menschen sind Vernunft und Sinne, der intuitive und der reflektive
Verstand noch nicht gesondert, er kennt sich nur als ganzen, ungeteilten
Menschen, hat sich noch nicht kraft seines Geistes der Welt enthoben und fühlt
sich dort ganz daheim. Aus dieser Vertrautheit zu allem, was ihn umgibt,
entsteht seine Dichtung als Steigerung der Wirklichkeit.
Der Rilke der
pariser Zeit geht auch vom konkreten Gegenstand aus, aber die Voraussetzungen scheinen
genau entgegengesetzt zu sein. Die Welt ist ihm fremd; er will sie sich durch
die Kunst aneignen. Sie ist ihm unverständlich; er will sie mittels der Kunst
verstehen lernen, sie durch die Kunst deuten. Sie erscheint ihm als tot und
seelenlos; zwar reicht seine Kunst nicht aus, sie zu beleben, aber beseelen
soll sie die erstarrten Dinge. Diese Kunst wirkt gewalttätig. Sie schafft, weil
sie muss, von der bitteren Notwendigkeit getrieben, den Künstler vor dem
Andrang des Fremden zu schützen, nicht aus dem
Überfluss des Gefühls, sondern aus Angst vor der Öde. Sie ist dankbar,
wenn wenn das Äußere eine Antwort des Gefühles hervorruft. Realistik ist hier
etwas ganz Neues. Sie will Realität sein. Rilkes Existenzgefühl will das
Ruhende, Unbewegliche, Zeitlose. Es sucht dies bei den Dingen. Da er die
Ansprüche des Lebens nicht anerkennt, bedeutet ihm der Nutzwert der Dinge
nichts. Die Ruhe der Dinge ist jedoch die Ruhe des Todes, des Nichts, sobald
der Mensch sie nicht irgendwie sinnvoll auf sich beziehen kann. Dies kann ihm
der Künstler, der den Stein behaut und das Holz beschnitzt, und so das Leblose
mit seinem Geiste füllt, ermöglichen. So ist die Arbeit des Bildhauers, der den
Stein vermenschlicht oder den Menschen versteinert, eine Lebensnotwendigkeit,
die dem Menschen einerseits ermöglicht, einen Sinn in seiner Umgebung zu sehen,
ihm andererseits, ganz unabhängig von seinem eigentlichen Gehalt, eine
Offenbarung des idealen Zustandes eines ruhenden Seins ist.
Gegenüber der
bildenden Kunst hat die Dichtkunst es schwer, sich zu behaupten, denn das
Dichtwerk besitzt keine dingliche Realität. Sie kann den Stein nicht beseelen,
aber sie kann, indem sie solche Kunstdinge deutet, ihren menschlichen Wert
vertiefen. Das versuchen Gedichte wie
“Das Kapitäl” oder “Die Treppe der Orangerie”. Sie kann auch das Lebendige wie
ein Werk der bildenden Kunst betrachten, aber ohne damit den Vorteil zu
erzielen, wieder einen beseelten Stein geschaffen zu haben. Man hat zuweilen
das Gefühl, dass Rilke während dieser Jahre daruner litt, dass es seiner Kunst
nicht möglich war, wirkliche, handgreifliche Dinge zu fabrizieren. Rilke konnte
keine Dinge machen, die den Vorrat der ruhigen, ungefährlichen Gegenstände für
sich und andere vermehren würden, wie der Handwerker. Er besaß keinen
Zauberstab wie Rodin, mit dem man den lebendigen
Leib berühren konnte, um ihn zu versteinern und die Bewegung des Augenblicks
für immer festzuhalten, so dass er, wie die Zauberer im Märchen, ganz umgeben
von steinernen Menschen würde leben können, Steinbildern, deren Anschauung ihn
die Zeit vergessen machte, weil die Steine von der Zeit nichts mehr wissen.
Aber es ist überhaupt eine seltsame Vorstellung, dass der Künstler bilde, um
sich eine Welt zu schaffen, in der es sich leichter leben lässt als in der
wirklichen. Auch Rilke wusste im Grunde immer, dass das Kunstwerk nur Monument
eines hochbegnadeten Augenblicks ist und nicht Welt. “Darin liegt die ungeheure
Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muss, -: dass es seine
Zusammenfassung ist; der Knoten im Rosenkranz, bei dem sein Leben ein Gebet
spricht, der immer wiederkehrende, für ihn selbst gegebene Beweis seiner
Einheit und seiner Wahrhaftigkeit ….”. [18] Ein
Leben, das vorwiegend im Nacherleben von Kunstaugenblicken besteht und deshalb
zeitlos ist, kann es für einen schöpferischen Menschen nicht geben. Das
Schaffen selber ist nämlich nicht ruhige Arbeit. “Kunstdinge sind immer
Ergebnisse des In-Gefahr-Gewesen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann.”
Auch wo sich Rilke Motive aussucht, die scheinbar ungefährlich sind, wie der
Panther, hat das Dichtwerk, das entsteht, doch das Leiden an der Welt zur
Voraussetzung. Eine Sicherheit im Äußeren kann Rilke also nicht in der Kunst
und im Künstlertum finden. Wenn er sie trotzdem sucht, gefährdet er sein
Schöpfertum. Dies begreift Rilke in zunehmendem Maße, und das Gewicht seines
Künstlertums verschiebt sich von außen nach innen. Er erlebt nicht mehr den im
Kunstwerk schon fixierten Moment nach, sondern öffnet sich der überwältigenden
Fülle der Eindrücke in der Hoffnung, sie möchten sich schließlich in ihm zur
Gestalt zusammenballen. Nicht mehr das Werk als solches ist wichtig, sondern
die Tatsache, dass es dem Künstler gelungen war, es zu vollenden. So verliert
der Begriff der Grenze an Bedeutung für Rilke. Er sieht das menschliche Sein
nicht mehr vom Ding her, sondern vom Engel aus. Er sucht nicht mehr
Zuständlichkeit in der Welt, sondern Ewigkeit im Überweltlichen und Geistigen,
zu dem der Mensch unterwegs ist. Der
Engel ist Sinnbild und Empfänger aller Augenblicke, in denen der Mensch in
absolutem Frieden mit sich selbst und der Welt ruht und eine Vorahnung von göttlicher
Selbstgenügsamkeit bekommt. Nun, wo er das Ideal des Seins sich nicht mehr im
Äußeren zu verwirklichen sucht und nur geistige Realität anstrebt, wird Rilke
das Leben wieder Wanderung und Suche, und mag er auch immer noch in weltlichen
Dingen das aktive Mitwirken vermeiden, so erlebt er doch jetzt, statt bloß zu
schauen.
In dem
beschränkten Raum dieser Arbeit kann der Charakter der neuen Welt und
Lebensanschaung Rilkes nur ungenügend behandelt werden. Man kann aber trotzdem
nur in diesem sehr breiten Rahmen die Veränderung in Rilkes Einstellung zu den
Dingen richtig verstehen. Es gilt, erst die neue Lebenshaltung Rilkes, auf die
sich eine neue Auffassung von der Struktur der Welt aufbaut, welche auch die Dichtung Rilkes stark
beeinflusst, zu schildern. Hiernach kann man Rilkes Einstellung zu den Dingen
seines täglichen Umgangs durch die verschiedenen Perioden seines Lebens
hindurch als eine Auswirkung seiner jeweiligen Weltanschauung erkennen.
c) Weisen künstlerischen Verhaltens
zum Stoff: Schauen, Liebe.
Die neue
Lebenshaltung kommt vielleicht am klarsten in den beiden Gedichten “Waldteich”
und
“Wendung” zum
Ausdruck, welche fast gleichzeitig im Juni 1914 entstanden. Das erste Gedicht
beginnt mit der vergleichenden Schilderung eines Waldteiches, der weich mit
spiegelnd stiller Oberfläche ganz in sich und seine eigene dunkle Tiefe
eingekehrt, zwischen ungebogenen, schweigenden Bäumen geborgen ruht und das
Spiel der Libellen schaut, und dagegen das Meer, das ungeschützt dem Einfluss
des Raumes, der zugleich Ferne und Sturm, Unruh und Gefahr ist, offen liegt. Wo
das Meer sich der Gewalt des Sturmes ausliefert, sich ihr hinhält und sie in
ihrer ganzen Stärke erleidet, wird der Waldsee nur vom Schatten ferner Wolken
verdüstert. Sein Erlebnis des Sturmes ist indirekt und sagenhaft. Seine Tiefe
bleibt unversehrt und nie bewegt, nur die Oberfläche spiegelt eine Bewegung,
erlebt sie scheinhaft, wie auch das Gespiegelte bezeichnenderweise nur Spiel
ist. Der Dichter fühlt, dass alles was
er tut im Grunde immer nur eine Verkleidung ist, die sich um den Kern der
Wirklichkeit, den er nicht mehr kennt, um seine schlafende Kindheit schmiegt.
Auch in der Vierten Elegie wendet er sich mit Ekel von den halbgefüllten
Masken, wie dem Tänzer, der ein verkleideter Bürger ist, ab. Er will das, was
er ist, ganz sein: “dass mich eines ganz ergreifen möge” bittet er. Im
“Waldteich” werden die drei Möglichkeiten zu sein aufgezählt: es gibt das reine
Schauen, es gibt die Liebe, und eine dritte, die immer wieder in Augenblicken
des Konfliktes und der Verzweiflung auftaucht, die aber im Grunde für den
Menschen gar nicht in Frage kommt: das unbewusste, einige Dasein der Blume.
Noch am Anfang der Neunten Elegie, in der das Positive der menschlichen
Existenz ein für alle Mal erkannt und gepriesen wird, wirft Rilke die Frage
auf: “Warum wenn es angeht also die Frist des Daseins zu verbringen als Lorbeer
…. Warum dann Menschliches müssen -?” Für den bewussten Menschen gibt es aber
im Grunde nur zwei mögliche Haltungen: Anschaun und Liebe. Die erstere war die,
die Rilke zur Zeit der Dinggedichte angestrebt hatte. Bis zu Ende geführt ist
sie die Haltung der reinen Kontemplation, in der der Mensch sich aus dem Leben
herauslöst und seine Individualität
preisgibt. Schopenhauer hat sie in seiner Abhandlung über das Objekt in der
Kunst so treffend beschrieben, dass es vielleicht nicht überflüssig ist, ein
Zitat hier einzufügen:
Wenn man, durch
die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren
lässt, aufhört nur ihre Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die
Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom
Grunde, nachzugehen, also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu
an den Dingen betrachtet; sondern einzig und allein das Was; auch nicht das abstrakte
Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewusstsein ausfüllen lässt; sondern,
statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt, sich
ganz in diese versenkt und das ganze Bewusstsein ausfüllen lässt durch die
ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es
eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was immer; indem man nach
einer sinnvollen deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand
verliert d.h. eben sein Individuum, seinen Willen vergisst und nur noch als
reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt, so dass es ist,
als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden der ihn wahrnimmt, und man
also nicht den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide
eines geworden sind, indem das ganze Bewusstsein von einem einzigen
anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; wenn also
solchermaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus
aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht
mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form,
die unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch
ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum; denn
das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist
reines willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.”
Rilke hat die
Möglichkeit des reinen Schauens in der Vierten Elegie erwogen. In ihm kämen die
Puppe, die menschliche oder im Bezug zum Menschen verstandene Gestalt, insofern
sie ihre Lebendigkeit und ihre Individualität abgelegt hat, und mechanisch
bewegt und anonym geworden ist, weil der Beschauer selbst alle Erinnerung an
das Leben von sich getan hat, und dann vom erlösten, ruhenden Geist aus, der
Engel, im ziellosen Spiel zusammen.
Dieses Spiel ging jedoch über den Menschen hinweg; es geht ihn nichts mehr an,
weil es vom Leben nichts mehr weiss. Die Schwierigkeiten, die für den Künstler
aus einer nur schauenden Haltung erstehen, sind an anderer Stelle schon
besprochen worden. Ganz erfolglos wird das Schauen zwar selten sein, irgendwie
wird der Dichter das Angeschaute, auch wenn es “sich entzieht”, schon deuten
können, aber er löst es aus seinem eigentlichen Lebensraum heraus und nimmt ihm
damit seinen lebendigen Wert. Wie in einem fremden Zimmer wird es in der
beschränkten Herzkammer gefangen. So wurde der Panther aus der Weite seiner
Urwälder geholt und in den Käfig gesperrt, in dem er langsam erstarrte.
d) Erfahrung des Einbezogenseins im
Weltganzen durch die Liebe. (Weltinnenraum) Das isolierte Ding wird zum Ding
des Bezugs.
Rilke
entscheidet sich hier für die Liebe als die höchste der drei Möglichkeiten. Liebe
bedeutet leidendes Erleben der Welt: in ihr tritt der Mensch in direkte
Beziehung zu seiner Umwelt und lässt sie auf sich einwirken. Er erkennt die
Verbundenheit der Menschen untereinander und mit ihm an. Wenn er als Künstler
eine innere Bedeutung in ihnen erfährt, dann muss er nun ihre Umgebung mit in
Betracht ziehen. “Oh hab ich keine Haine in der Brust? Kein Wehen? Keine
Stille, atemleicht und frühlinglich?” fragt er im “Waldteich”. Es soll den
Dingen nicht mehr gewaltsam eine Bedeutung aufgezwungen werden, sondern der Sinn
muss in langer, intimer Bekanntschaft mit ihnen selbstverständlich werden, so
dass er zuletzt gar nicht mehr übersehen werden kann. Im Zusammenhang mit dem
Weltganzen steht ein jedes Ding in einer ganz bestimmten Beziehung zum
Menschen, es hat ein Wesen in Bezug auf den Menschen, aber diese Wesen muss der
Mensch im Kontakt mit den Dingen erfahren.
Der Intellekt und das Gefühl, mit denen Rilke in Paris den Dingen
begegnet war, reichen nicht dazu aus, diesen Sinn zu offenbaren. Die Liebe, die
hier beschrieben wird, ist nicht eine lyrische Verschmelzung mit den Dingen;
sie wahrt die Distanz zwischen sich und dem begegnenden Objekt und freut sich
des sinnvollen und schönen Verhältnisses, in dem sie zu einander stehen. In
diesem Sinne darf man die Schlusszeilen des Gedichtes verstehen:
Oh, ich habe zu
der Welt kein Wesen,
wenn sich nicht
von draußen die Erscheinung,
wie in leichter
vorgefasster Meinung,
weither heiter in
mich freut.
Rilke kommt
zu der Überzeugung, dass es ein Weltganzes gibt, in dem jeder Teil in einer
notwendigen und sinnvollen Beziehung zum Menschen steht. Zu diesem Weltganzen
gehört alles, was jemals Gestalt angenommen hat. Es weiss von Zeit und
Geschichte nichts. “In jener größten ‘offenen’ Welt sind alle, man kann nicht
sagen gleichzeitig, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, dass sie alle
sind.” [19]Diese
Gedanken verdichten sich in der Vorstellung eines Weltinnenraums: ein Raum des
Geistes, in dem alle äußeren Erscheinungen ihre notwendigen inneren Äquivalente
haben.
Zwei kurze
Aufzeichnungen, die Rilke 1913 in Spanien machte und “Erlebnis” betitelte,
geben Aufschluss darüber, wie er erstmalig zu der Vorstellung eines inneren
Raumes gelangte. Er beschreibt dort, wie
er sich während eines Gartenspazierganges in die Gabel eines Baumes lehnte und
in dieser Stellung plötzlich eine seltene Nähe zur Natur verspürte. Er fühlte
sich “eingeruht” in den Baum, “völlig eingelassen in die Natur” und verweilte
“in einem beinah unbewussten Anschaun”. Es kam ihm vor, “dass fast unmerkliche
Schwingungen aus dem Innern des Baumes in ihn übergingen”. “Sein Körper wurde gewissermaßen wie eine
Seele behandelt und in den Stand gesetzt, einen Grad von Einfluss aufzunehmen,
der bei der sonstigen Deutlichkeit leiblicher Verhältnisse eigentlich gar nicht
hätte empfunden werden können.” Für diesen Zustand fand er den Ausdruck, “er
sei auf die andere Seite der Natur geraten.” Irgendwie schien er nicht mehr zu
der Welt der äußeren Natur zu gehören. Er wusste sich unabhängig von den
Dingen, andererseits machte es sie ihm viel deutlicher. Sie berührten ihn mit
so unerschöpflicher Bedeutung, als ob nun nichts mehr zu verbergen sei.
Das zweite
Erlebnis wurde ihm in Capri zuteil. Er beschreibt, wie damals ein Vogelruf
draußen und in seinem Innern übereinstimmten, indem er sich gewissermaßen an
der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum
zusammennahm, in welchem geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle
reinsten und tiefsten Bewusstseins blieb. Sein Verhältnis zu den Dingen war damals
das einer gesteigerten Sachlichkeit. Er verlor auch sein Zeitbewusstsein nicht,
sondern war sich während des Erlebens bewusst, dass dieser Augenblick vergehen
würde und erwartete bereitwillig einen unendlich gesetzmäßigen Ausgang dieses
Zustandes. Hier wird die innere Welt visionär erfahren.
Der
Weltinnenraum wird zum ersten Mal in einem Gedicht, das ein Jahr nach der
Niederschrift dieser Erlebnisse entstand, erwähnt.
Durch alle Wesen
reicht der eine Raum:
Weltinnenraum.
Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch.
O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus
und in mir wächst der Baum.
Das, was
fremd an uns vorüberging und was uns gleichgültig war, kommt uns so nah, dass
Fühlung – Schwingungen hieß es vorher – zu uns übergehen kann. Die Erscheinungen stehen an uns, “umarmend
und umarmt”, in einem Liebesverhältnis. Masken und Hüllen, Zufälle und
Uneigentlichkeiten sind abgetan, und die Gegenstände bringen es fast zum
Gesicht, in dem alle Geheimnisse offen daliegen. Diesen Zustand, in dem die
Grenzen gefallen sind und die Wahrheit unverhüllt ist, nennt Rilke “Wesen”.
Man muss sich
davor hüten, dieses Erlebnis als eine mystischen Verschmelzung mit der Natur
deuten zu wollen. Der Dichter und die Dinge stehen sich gegenüber und der
Abstand ist eher größer denn kleiner als sonst. Neu ist, dass Rilke hier mit
dem Gefühl erfährt, dass alle die Dinge der Welt, die ihn umgeben und seinen
Geist anzusprechen vermögen, ihrer Natur nach in einem sinnvollen Verhältnis zu
ihm stehen und ihm ihr wahres Wesen offenbaren können. Er erlebt sich als einen
Teil des Weltganzen, den unsichtbare Fäden mit allem anderen verknüpfen. Er ist
“eingeruht” in die Welt, im umfassendsten Sinne in der Welt beheimatet. Alle
Dinge der Welt haben ihren gesetzmäßigen Platz im Kosmos des menschlichen
Geistes. Wiederum kann man eigentlich hier nicht von einem Naturerlebnis
sprechen, denn das Lebendige der Natur, wenn es ihm auch das Visionäre
ermöglicht, interessiert ihn eigentlich nicht. Sie ist ihm ruhende zeitlose
Realität.
Dieses Gefühl
der Alleinigkeit der Welt findet jedoch nirgendwo lyrischen Ausdruck, sondern
wird philosophisch ausgewertet. Aber die gefühlsmäßige Vorwegnahme des
Gedankens ermöglichte Rilke erst, ihn schöpferisch zu behandeln und dieses
Gefühlserlebnis schenkt ihm zweimal eine ganz bestimmte Landschaft. Das erste
Mal ist es Toledo in Spanien. “Erscheinung und Vision”, schreibt er in einem
Brief, “kamen gleichsam überall im Gegenstand zusammen, es war in jedem eine
ganze Innenwelt herausgestellt, als ob ein Engel, der den Raum erfasst, blind
wäre und in sich schaute. Diese nicht mehr vom Menschen aus, sondern im Engel
geschaute Welt ist vielleicht meine wirkliche Aufgabe, wenigstens kamen in ihr
alle meine früheren Versuche zusammen.” [20] Damals
schien ihm die spanische Landschaft wie ein Schlüssel zu einer ganz großen und
endgültigen Kunst, aber es gelang ihm noch nicht diese Kunst zu verwirklichen.
Es folgen hierauf Jahre des verzweifelten Ringens. Er versucht, seinen inneren
Maßstab der Weite der irdischen Welt anzupassen und wendet sich in dieser Zeit
immer wieder der Nacht zu, diesem größten Übergewicht seines Schauens, die ihm
die kaum ermesslichen Fernen der Sterne
vorhält. Indem er sich diesem Erlebnis völlig vorbehaltlos ausliefert, weitet
sich an der Unermeßlichkeit der Himmelsräume sein eigener Herzraum. “Hinhalten
will ich mich, wirke, geh über so weit du vermöchtest”, heißt es in einem der
Gedichte an die Nacht:
oh, wie wollte
ein Fühlender nicht, der will, der sich aufreißt,
unnachgiebige
Nacht endlich dir ähnlicher sein.
Die Suche
nach einer höheren Kunst wird für Rilke die Suche nach der Geliebten. Nur durch
sie können die gewonnen Eindrücke zum bleibenden Kunstwerk zusammengeschlossen
werden.
Perlen entrollen,
Weh, riss eine der Schnüre?
Aber was hülf es,
reih ich sie wieder,: du fehlst mir,
starke Schließe,
die sie verhielte, Geliebte.
In allen
Gedichten tritt er nun als Wartender, Hoffender, Flehender auf. Überall im
Geschauten findet er Spuren der Geliebten, aber sie selbst entgeht ihm immer
wieder. Er spürt, dass sein Gefühl abgestumpft ist. Die Liebeskraft, die Rilke
stets von neuem dem persönlichen Verhältnis entzogen hatte, musste für seine
Kunst fruchtbar werden, wenn sie nicht ganz verloren gehen sollte. Dies aber
wäre die tiefste Niederlage für ihn gewesen. Um diese Zeit schreibt er Lou,
dass er immer mehr dazu neige, einen Halt an anderen Menschen zu suchen, und
dies sei immer ein schlechtes Zeichen für ihn.
II
Verfehlen einer sinnvollen
Beziehung des Dichters zum Menschen
Die
künstlerische Erfüllung wurde Rilke erst ein Jahrzehnt nach dem so
verheißensvollen spanischen Aufenthalt zuteil. Vorbereitend war dieses Mal das
Erlebnis der Landschaft des Wallis, die Rilke sehr an Spanien gemahnte. Sie hatte
einen schöpfungshaften Rhythmus. “ … es bilden sich Länder vor einem, als
schüfen sie sich erst – und was an Dingen (Häusern und Bäumen) innerhalb dieser
Perspektiven vorkommt, hat die Distanzen und Spannungen, die wir aus dem
Aufgang der Sternbilder kennen: als ginge aus diesem großartigen Entfaltet- und
Aufeinanderbezogensein der Einzelheiten Raum hervor, - eine Erscheinung, die
nicht so überzeugend könnte erfahren werden, wäre die Luft nicht von einer
unbeschreiblichen Teilnehmung an allem Gegenstand, umschauerte sie ihn nicht so
und machte sie nicht jeden Zwischenraum, bis in die Hintergründe hinein zu
ihrem Glück, zum Schauplatz so und so vieler gefühlter (dächte man) Übergänge
…” [21]
Vergleicht man diese Beschreibung mit der der Worpsweder Landschaft zwanzig
jahre früher, die die Epoche der Neuen
Gedichte eingeleitet hatte, dann kann man den Wandel in Rilkes Kunst ganz
klar erkennen. In Worpswede hatte ihn die Einsamkeit und Unabhängigkeit der
verschiedenen Dinge, die in der Landschaft standen – auch dort waren es vor
allem Bäume und Häuser – beeindruckt, und gleichermaßen hatte er in Paris in
jedem Teil das einsame Ganze zu sehen versucht. Jetzt erlebt er die Spannungen,
das Aufeinanderbezogensein der Einzelheiten, die Übergänge zischen ihnen. Es
kommt ihm um Beziehungen oder um das Wort, das jetzt immer wieder vorkommt, zu
gebrauchen, auf Bezug an. Das Ding, das weiterhin im Mittelpunkt seiner Kunst
steht, ist nicht mehr einsam, sondern ein Ding des Bezugs.
Die Natur des
Bezugs ist, dass in ihm die Grenze zwischen Anderem oder Widersprüchlichem
fällt und einst Getrenntes in eine Verbindung mit einander tritt, in der jedoch
jedes seine Selbständigkeit beibehält. In der Vorstellung des Weltinnenraums
waren die Dinge in eine geistige Beziehung zum Menschen getreten. Gleichermaßen
sind in der “vollzähligen Zeit” die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft gefallen. Für die konkrete Erkenntnis und die dichterische Bildung
dieses Gefühles, dass alles auf der Welt sinnvoll auf den Menschen bezogen ist,
werden die Dinge wieder wichtig, und zwar
jetzt in erster Linie die des Gebrauchs und Umgangs. Denn sie sind aus der
Beziehung zwischen Mensch und Welt hervorgegangen, und anders als die
Kunstdinge existieren sie auch weiterhin als tägliche Brücke zwischen Mensch
und Natur. Sobald es dem Menschen gelingt, in ihnen eine sinnbildliche Bedeutung
zu erblicken, erhält auch die Natur, vor
der sie schützen, oder die sie dem Menschen zugänglich machen, eine
sinnbildliche Bedeutung, das heißt, sie tritt in direkte Beziehung zur
Geisteswelt des Menschen. In den Dinggedichten der “Sonette an Orpheus” wird
nunmehr das Ding des Bezugs und nicht mehr das selbstgenügsame Kunstding
besungen.
Aber auch in
dieser all-einigen Welt steht der Mensch einsam im Kosmos. Eine sinnvolle
Beziehung zwischen Mensch und Mensch hat Rilke nirgendwo in seiner ganzen
Dichtung dargestellt, es sei denn am Ende der Fünften Elegie, wo es heißt:
Engel! : Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und
dorten,
auf unsäglichem
Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier
bis zum Können
nie bringen, ihre kühnen
hohen Figuren des
Herzschwungs,
ihre Türme aus
Lust, ihre
längst, wo Boden
nie war, nur aneinander
lehnenden
Leitern, bebend, - und könntens,
vor den
Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:
Diese
Möglichkeit kann nur jenseits des irdisch-vergänglichen Lebens erfüllt werden.
E. Die gelebte und praktische Beziehung Rilkes zu
den Dingen
Das Ding war
immer schon ein wichtiger Bestandteil von Rilkes Umwelt, und man lernt seine
Bedeutung für das Werk Rilkes erst verstehen, wenn man auch die gelebte und
praktische Beziehung des Dichters zu den Dingen würdigt.
Es lassen
sich hier zwei wichtige Epochen in Rilkes Leben erkennen. In der ersten, die
ihren künstlerischen Abschluss in dem 1914 erschienenen Aufsatz über die Puppen
findet, stand der Mensch in einem Spielverhältnis zum Ding. Er kannte es
hauptsächlich als Kinderspielzeug und als Kunstwerk. In der zweiten Epoche trat dann der
Gebrauchscharakter des Dinges in den Vordergrund. Diser Umschwung steht in
engem Zusammenhang mit der Wende vom Kunstwerk zum Engel, und vom Kind zum
Künstler, die im Vorausgehenden beschrieben worden ist.
I. Wandlung der Einstellung von Ding
als Spielzeug zum Ding als Gebrauchs- gegenstand
Hier muss
noch einmal gefragt werden, warum Rilke den Dingen so besonders nahestand, so
nahe, dass er von sich behaupten konnte, er lebe durch die Dinge. In der
Einleitung habe ich versucht zu zeigen, dass Rilke hier in einer
zeitgeschichtlichen Entwicklung stand. Aber auch Rilkes Charakter und sein
persönliches Schicksal, besonders seine Kindheitserfahrungen, haben nach Rilkes
eigenem Urteil hierzu beigetragen.
a) Begründung der Bedeutung des
Dinges für Rilke
Im
Rodinvortrag fordert Rilke sein Publikum auf: “Gedenken Sie, ob es irgendetwas
gab, was ihnen näher, vertrauter und nötiger war als so ein Ding, ob nicht
alles – außer ihm – imstande war, Ihnen weh oder unrecht zu tun, Sie mit einem
Schmerz zu erschrecken oder mit einer Ungewissheit zu verwirren? Wenn Güte
unter Ihren ersten Erfahrungen war und Zutraun und Nicht-allein-sein –
verdanken Sie es nicht ihm?” [22]
In dem Verhältnis zum Ding findet das Kind die Sicherheit, die ihm sonst in
einer feindlichen und unverständlichen Welt versagt ist. Auch schon für das
Kind ist nämlich die Welt voller Gefahr. Da gibt es die Unheimlichkeit, die es
des Nachts überfällt, “das wallende Chaos”, und demgegenüber ist das Ding die
Gestalt, das Bestimmte, auf das man sich verlassen kann, weil es sein Aussehn
nicht ändert. Darüberhinaus war das Ding relativ unabhängig von Zeit und
Zufall, und das Kind war auch vor dieser Ungewissheit sicher, wenn es sich den
Dingen zukehrte. Aber vor allem suchte es bei den Dingen Zuflucht vor den
Menschen. Im Puppenaufsatz heißt es von der Kinderzeit: “Der einfachste Verkehr
der Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus; mit einer Person, die etwas
war, konnten wir unmöglich leben und handeln, wir konnten uns höchstens in sie
hineindrücken und in ihr verlorengehen.” Sein ganzes Leben lang hat Rilke in
Furcht davor gestanden, dass er sich in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen
irgendwie verlieren könnte und von seinem eigensten etwas einbüßen würde. In
der Geschichte vom Verlorenen Sohn drückt Rilke diese Ideen sehr deutlich aus.
Als Kind schon flieht dieser aus dem Hause, wo ihn alle lieben, in die innige Indifferenz der Natur. Denn die Liebe ist schrecklich gewalttätig. Im Hause war er der, für den die anderen Hausbewohner ihn hielten, nur Kleinigkeiten konnten sich noch ändern. Man war der, “dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben gemacht hatten;” er war “das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.” Man stand in Gefahr, das Ich-selbst gegen ein Man-selbst einzutauschen.
Als Kind schon flieht dieser aus dem Hause, wo ihn alle lieben, in die innige Indifferenz der Natur. Denn die Liebe ist schrecklich gewalttätig. Im Hause war er der, für den die anderen Hausbewohner ihn hielten, nur Kleinigkeiten konnten sich noch ändern. Man war der, “dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben gemacht hatten;” er war “das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.” Man stand in Gefahr, das Ich-selbst gegen ein Man-selbst einzutauschen.
Rilke hatte
eine derartige Vergewaltigung wahrscheinlich in mehr als einer Hinsicht
erfahren. Seine Mutter, die sich ein Mädchen gewünscht hatte, kleidete ihren
Sohn bis zu seinem fünften Lebensjahr als Mädchen, damals nichts
Ungewöhnliches, aber sie scheint ihn auch ganz als solches behandelt zu
haben. In der Militärschule St. Poelten
erfuhr er dann einen Corpsgeist, der nichts
Eigenes
zuließ und alles unter den Nenner einer anonymen Gleichförmigkeit brachte. Auch
hiergegen lehnte er sich wohl im Stunden-Buch
auf, als er die Notwendigkeit zur Einsamkeit verkündete. Außerdem brauchte
Rilke als Künstler Ruhe, um schaffen zu können. Diese Einsamkeit werden die
“Leute”, alle welche zufrieden in dieser Anonymität leben, nie wirklich
begreifen können. “Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur
gehasst, ohne ihn zu kennen. “ Und im Gedanken an die Vergewaltigung, die die
falsche Liebe dem so Geliebten antut, spricht er im Verlorenen Sohn von der
“entsetzlichen Lage geliebt zu sein”. Der Verlorene Sohn nahm sich vor, nie
jemand zu lieben, und wie er es dann doch tut, ist es unter unsäglicher Angst
um die Freiheit des anderen. Es gibt
zwar eine reife, gekonnte Liebe, die in den Elegien als eine der vollendeten
Formen des Seins gefeiert wird. In ihr gibt es aber im Grunde kein Geliebtsein
mehr, denn beide Liebende lieben über den anderen hinaus und durch ihn hindurch
ins Offene. Die Menschen müssen zu Liebenden werden, denn weil das Geliebtsein
immer voller Gefahr ist, sind die Liebenden sicher, und es kann ihnen nichts
geschehen. “Immer übertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben größer
ist als das Schicksal.”
Es ist also
aus Angst vor einer solchen besitzergreifenden Liebe, dass das Kind den Dingen
zuflüchtet. Aber nicht nur das Kind. Auch die Vorliebe für die Dinge, die für
den erwachsenen Rilke charakteristisch ist und die einem in diesem
Intensitätsgrade merkwürdig anmutet, läßt sich wohl weitgehend aus einer
Unzulänglichkeit in der Liebe, deren sich Rilke, wie aus vielen seiner Briefe
hervorgeht, auch bewußt war, und dem dadurch entstandenen Bedürfnis nach
Sicherheit herleiten. “Wenn ich Menschen suche, so raten sie mir nicht und
wissen nicht, was ich meine. Und Büchern gegenüber bin ich ebenso (so unbeholfen),
und sie helfen mir auch nicht, als ob auch sie noch zu sehr Menschen wären ….
Nur die Dinge reden zu mir” schreibt er 1903 aus Paris. [23]Und
drei Jahre später in einem Brief an seine Frau gibt er seine Unfähigkeit, ihre
Liebe ganz zu erwidern, zu. “Dieses Gesicht müsste seine Gedanken da sein und
aus ihnen hinausschauen zu niemandem hin, ein Stück Himmel findend, einen Baum,
einen Weg, etwas Einfaches, wobei es anfangen kann, etwas, was ihm noch nicht zu
schwer ist.” Und so kommt die eigenartige Perspektive in Rilkes Werk, die jedem
Leser auffallen muss, zustande. Er erklärt sich selbst: “Meine Welt beginnt bei
den Dingen, und so ist in ihr der mindeste Mensch schon erschreckend groß, ja
beinahe ein Übermaß.”[24]
Bis hin zu
den Duineser Elegien ist Rilkes
Dichtung von der Idee seiner Kindheit überschattet. In den frühen Gedichten
sind die Probleme zurückgedrängt, und der Zustand des Kindseins wird mit einem
rosigen Schein überzogen. Im Malte
schaffen sich dann die Ängste der Kindheit gewaltsam Luft und geben den Weg
frei zu einer Überwindung, die schließlich in den Duineser Elegien gelingt. Während Rilke noch unter dem Einfluss
seiner Kindheit steht, ist ihm das Ding auf die eine oder andere Weise
Spielzeug.
b) Das spielende Ding in Analogie zum
Künstler. Spielzeug, Kunstding.
In einer der Geschichten vom Lieben Gott wird erzählt,
wie der Fingerhut dazu kam, der Liebe Gott zu sein. Wenn Dinge lebendig sind,
heißt es dort, dann können sie “verschiedes werden, und ein Ding, welches als
Bleistift oder als Ofen zur Welt kommt, muss deshalb noch nicht an seinem Fortkommen
verzweifeln. Ein Bleistift kann mal ein Stock, wenn es gut geht ein Mastbaum,
ein Ofen, aber mindestens ein Stadttor werden.” Die Kinder haben keinen Sinn
für die Nützlichketit der Dinge. Sie leben in einer Fantasiewelt und kümmern
sich wenig um Realitäten. Ihre Umgebung wird, soweit das möglich ist, ins Spiel
einbezogen und ist für die Dauer des Spiels eine Welt, die der schöpferische
Geist sich geschaffen hat. Die Dinge werden im Spiel vergeistigt. Die Fantasie
des Kindes kennt keine Schranken. Rilke rühmt im Rodin-Vortrag die selige Demut
des Dinges, seine Bereitschaft, alles zu sein. Das Ding ist lebendig, solange
die Fantasie des Kindes aktiv ist. So können die Kinder im Märchen vom
Fingerhut beschließen: “ein jedes Ding kann der Liebe Gott sein, man muss es
ihm nur sagen”, und der Fingerhut, der Form nach ein Becher in Miniatur, wird
Gefäß für das, was die Fantasie der Kinder hineinlegt. Wie im Stunden-Buch die
äußere Charakteristik der Welt unwichtig ist und Mensch und Pflanze als Gefäß
des einen göttlichen Geistes gesehen werden, so tritt das Ding auch dem
Aussehen nach hier in seinem Eigencharkter zurück. Es kommt nur auf die Welt
der Fantasie an. Rilke nennt hier das willige, eigenschaftslose Spielzeug den
Freund und Vertrauten des Kindes.
Als Freunde
und treue Begleiter des Menschen hatte Rilke schon in seiner allerersten
Gedichtsammlung Larenopfer die Dinge
gefeiert. Es klingt dort überall eine Biedermeierfreude an der Sicherheit
beschränkter häuslicher und bürgerlicher Zustände mit, für die der alte
Hausrat, die alten Gebäude und die Altstadt symbolisch sind. Im Anblick dieser
Dinge träumt der Dichter sich in die
schöne alte Zeit zurück.
Schlichtheit war
der Väter Aussat,
Glück die Frucht,
die sie gefunden;
sitzt so träumend
manche Stunden
dort im
Polsterstuhl, im runden
mitten im
Urväterhausrat.
Das
Biedermeier war eine Zeit, die auf die Dinge hielt und deren Charakter sich
gerade in den kleinen Dingen des mensclichen Umganges ausdrückte, Die moderne
Zeit schien dies nicht mehr zu tun. Ihre Dinge waren unpersönlich, nicht aus
dem Geist und dem Gefühl geboren, und regten deshalb auch die Fantasie nicht
an. Rilke vermißte in ihnen den echten Stil.
Die moderne
Bauschablone
will mir wahrlich
garnicht passen.
Hier dies alte
Haus darf fassen
reiche, weite Steinterassen,
kleine heimliche
Balkone.
Und die
weitgewölbten Decken,
die so günstig
sind den Lauten,
Nischen rings,
die eingebauten,
draus die Arme
sich der trauten
Dämmrung dir
entgegenstrecken.
Alle Mauern
breiter, stärker
und aus echten
Quaderkernen; -
traun, das
Gruseln könnt ich lernen,
seh ich auf die
Zinskasernen
aus dem kleinen,
stillen Erker.
Kunst im
eigentlichen Sinne sucht Rilke hier noch nicht, sondern Anregung für seine
schwärmende Fantasie. Er sieht die Dinge auch nicht als Gebrauchsgegenstände,
sondern die Tatsache, dass sie einmal gebraucht worden sind, bringt ihn auf die
Menschen und die Zeit, die sie brauchten.
Es war
überhaupt für Rilke ein geläufiger Gedanke, dass Gebrauchsdinge irgendwie auf
mysteriöse Weise das Wesen des Menschen, die mit ihnen umgehen, in sich
aufnehmen.
Die Dinge aber müssen
willig halten,
was einer ihnen
in die Hände legte;
da sagt ein Glas,
was meinen Ahn bewegte,
ein Buch verrät
mir, was er heimlich hegte,
und dieser Atlas,
der um die Gestalten
vergangner Frauen
rauschend sich erregte,
fällt immer
wieder in dieselben Falten.
Rilke muss
von Natur aus ein ungewöhnlich feines Gefühl für Atmosphäre gehabt haben,
vielleicht darüber hinaus sogar noch mehr. Er erzählt, dass er auf Schloss
Duino, wo er auf Einladung der Fürstin von Thurn und Taxis längere Zeit
zubrachte, die Gegenwart der Geister zweier verstorbener Frauen verspürte, und
mit ihnen in Verbindung treten konnte. Ein ähnliches Gefühl einer übernatürlichen
Gegenwart, die sich mit einem gewissen
Ort oder Gegenstand verbunden hatte, mag ihn auch beim Anblick mancher Dinge
überkommen haben. Im großen Ganzen kann man
aber derartige Ausdeutungen von Gegenständen nur als Spiel der Dichterfantasie
gelten lassen. Es war ein Spiel, das Rilke sein Leben lang gern betrieb. “
….alte Häuser, alte Dinge können … die zwingendste Macht über mich bekommen”,
schreibt er 1918 in einem Brief, und etwas später heißt es: “Und dass ich alte
Dinge um mich wünsche, auch das ist nicht Wählerischsein und äesthtische
Ziererei, was haben die mir nicht …. für Menschlichkeit zugetragen: wieviel
Mitteilung, wieviel Schicksal geht aus ihnen auf denjenigen über, der es seit
Kindheit mit den Dingen gehalten hat.” Malte empfindet es als einen Fluch,
“ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde” leben zu müssen, und er beneidet
den Dichter Francois Jammes, der dieses alles hat. Denn “er weiss von Mädchen,
die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, dass sie tot sind,
denn er weiss alles,” weil sich ihre Tagebücher und ihre Kleider noch in den
Fächern seiner Schränke befinden. An einer Stelle im Malte Laurids Brigge erzählt
der Held, wie er vor der übriggebliebenen Innenwand eines Hauses, das man
abreißt, stehend, plötzlich das Leben der Menschen, die hier gewohnt haben,
visionär vor sich sieht.
Es scheint
hier überall fast gewaltsam eine Belebung und Beseelung des Toten und
Geistlosen versucht worden zu sein. Dieser Mensch, der sich ganz zu den Dingen
bekannt hat und sich trotzdem mit jeder Faser seines Wesens gegen eine
materialistische Weltanschauung wehrt und alles, was Besitz ist, nicht gelten
lassen will, ist unbedingt darauf angewiesen, einen geistigen Wert in den
Dingen zu finden, weil ihm sonst garnichts mehr bleibt. Das fantasievolle
Nacherleben einer Atmosphäre, die stilechten und oft-gebrauchten Dingen
anhaftet, ist eine Möglichkeit dieser Art, und sie kommt dem Spiel des Kindes
nahe. Eine zweite Möglichkeit, die Rilke eigentlich erst in Paris aufgriff, war
das Erlebnis des Dinges als Kunstgegenstand. Auch hier kommt es Rilke wieder
darauf an, in möglichst vielen Dingen diese Kunstwerte zu erkennen. In einem
Brief aus dem Jahre 1920 schreibt er: “Spitzen und Schmuck, grade weil sie
meist nur als dekorative Leistungen behandelt werden, halten mich immer in
einer besonderen Weise fest -, es verlockt mich, in ihnen das Kunstwerk an sich
zu entdecken, d.h. die vollkommene Verwandlung und Verzauberung ihres
Hervorbringers, die sich im Werk vollzogen und verklärt hat. Wie sollte man
nicht Spitzen so betrachten dürfen, die immer ein Leben für sich gewesen sind,
eine Absage und eine schon dafür eingetauschte Freude und Dauer und
Unerschöpflichkeit.” “Und gerade alter Schmuck lässt sich auch derart
auffassen, es ist nicht allein eine schmückende Gestaltung, es ist eine
Übertragung dessen, was das eigene Dasein sein könnte, in das Leben der Steine
und des Goldes: um ihren Stolz, ihre Stärke, ihre Verschwendung handelt es sich
foran – nicht mehr um die Eigenschaften und Zufälle des sie erkennenden
Handwerkers.” Selten wird ein reiner Künstler in dieser Weise für das
Kunstgewerbe Partei ergreifen. Diese Aussprüche und die Tatsache, dass Rilke
immer wieder von der künstlerischen Gabe als Können redet, und vom Schaffen des
Künstlers als Handwerk, eine Einstellung, die seine eigene Kunst zu verleugnen
scheint, lassen sich gewiss teilweise aus diesem Drang nach Vergeistigung der
Materie, die auch seine Liebe zur Skulptur mitbestimmte, erklären. In demselben
Brief heißt es: “das ist immer gleich beglückend zu erfahren, wie ein an einer
Stelle restlos durchgesetztes Können die ganze Welt auf eine unerwartete Weise
in Besitz nimmt und von seiner Mitte aus unerschöpflich macht.” Die Wirkung des
Kunstwerkes wird hier also einem Können zugeschrieben und nicht, wie im
allgemeinen, der Erkenntnis eines ewigen Wertes.
b) Das spielende Kind in Analogie zum
Künstler. Spielzeug, Kunstding.
Der
Kunstgenuss ist ebenfalls ein Spiel der Fantasie, wenn sich auch dieses Spiel
innerhalb von strengen Grenzen bewegt und nicht wie Kinderspiel und Träumereien
frei umherschwärmt. Der Kunstgenuss ist Spiel, weil er sich jenseits der Nöte
und Bedürfnisse des Lebens bewegt, weil der Geniessende das Kunstwerk nicht zu
etwas gebraucht – sowie er das tut, betrachtet er es nicht mehr nur als Kunst –
und den Abstand zwischen dem Beschauer und dem Werk nicht überbrücken will.
Huizingas Beschreibung der Poesie gilt im Wesentlichen für alle Kunst. “Wenn man
Ernst als das auffasst, was sich in Worten des wachen Lebens schlüssig
ausdrücken lässt, dann wird Dichtung niemals vollkommen ernsthaft. Sie steht
jenseits von Ernst, auf jener ursprünglicheren Seite, wo das Kind, das Tier,
der Wilde und der Seher hingehören, im Felde des Traums, des Entrücktseins, der
Berauschtheit und des Lachens. Um Dichtung zu verstehen, muss man fähig sein,
die Seele des Kindes anzuziehen wie ein Zauberhemd und die Weisheit des Kindes
der des Mannes vorzuziehen. Von allen Dingen steht nichts dem reinen
Spielbegriff so nahe, wie jenes urzeitliche Wesen der Poesie.” [25]
Rilke hätte Huizinga vermutlich beigestimmt.
c) Auseinandersetzung mit den
Problemen der Kindheit und des Künstlertums anhand des Puppensymbols.
Alles dies
bildet den Grund, auf dem 1914 Rilkes Aufsatz “Einiges über Puppen” entstand,
und sechs Jahre später die fragmentarischen Verse und Entwürfe zur Fortsetzung
des Gedichtes “Lass dir, dass Kindheit war…” Dies ist Rilkes letzte und tiefste
Auseinandersetzung mit dem Wesen und den Problemen der Kindheit, und
gleichzeitig mit Wesen und Problemen des Künstlers. Man erkennt, warum Rilke so
viele Jahre brauchte, bis er seine Kindheit “überwunden” hatte, warum der
Verlorene Sohn im Malte Laurids Brigge sich
entschloss, seine Kindheit “noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen”.
Kind und Künstler, beide sind sie Spielende, und als solche haben sie dieselben
Probleme.
Die Puppen
sind nur Spielzeug und werden nie in einer wirklichen Situation Sinn haben:
“ernährt mit Scheinspeise wie der ‘Ka’, das Wirkliche wo’s ihnen durchaus sollte
beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmierend…”. Sie sind “undurchdringlich und in dem äußersten Zustand vorweggenommener
Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgendeiner Stelle
einzunehmen.” Unzugänglichkeit und Selbstgenügsamkeit waren in der pariser Zeit
Merkmale des Dinges, und in besonderer Weise des Kunstdinges. Rilke vergleicht hier jedoch die Puppe mit
den Dingen, die in einer tätigen und praktischen Beziehung zum Menschen stehen,
Geräten und Gebrauchsdingen aller Art: einem Nähstock, einem Spinnrad, einem
häuslichen Webstuhl; einem Brauthandschuh, einer Tasse, dem Einband und den
Blättern einer Bibel; mit Hammer, Geige, Hornbrille und Kartenspiel. Er nennt
die Perle, die durch Berührung mit der Haut des Trägers auf geheimnisvolle
Weise lebendig bleibt und abstumpft, sowie sie nicht mehr getragen wird, dazu
Waffen und Rüstungen, denen man noch die Spuren der Kämpfe, in denen sie
gebraucht wurden, ansieht. Alles dies sind Dinge “die ins menschliche Leben ausführlich und innig
einbegriffen waren”. Diese Gebrauchsdinge werden hier eigentlich zum ersten Mal
genannt, nicht als solche, die früher einmal gebraucht worden sind, heute aber
nur dazu dienen, Erinnerungen zu wecken, sondern als Gegenstände, mit denen die
Menschheit früher gelebt hat und heute noch lebt. Es sind Dinge, die man immer
um sich hat und die einem durch ihre Nützlichkeit der einen oder anderen Art
liebe und unentbehrliche Begleiter werden können. Sie bringen dem Menschen
Hilfe in der Not, schmücken ihn, wenn er sich festlich fühlt, ermöglichen es
ihm, seine Mußestunden auszufüllen, verhelfen seinen Gefühlserregungen zum
Ausdruck und befriedigen seine Bedürfnisse. So stehen sie in direkter Beziehung
zu den Affekten des Menschen und gewinnen hierdurch eine Seele. Auch das
Schaukelpferd gehört dazu, obwohl es ein Spielzeug ist, denn es erfüllt eine
einzige ganz bestimmte Funktion. Das Kind braucht es, auch wenn seine Fantasie
dabei das hölzerne Tier überflügelt.
Die eben
aufgezählten Dinge sind Ergänzungen und Erweiterungen des Menschen. Die Puppe
ist etwas anderes als die Gebrauchsdinge, aber sie ist auch etwas anderes als
“Fingerhut, Bleistift und Ofen”, denn da sie die Gestalt des Menschen hat, ist
der Fantasie des Kindes nicht freier Lauf gelassen, sie muss einen Menschen
schaffen. Sie dient sozusagen als Spiegel für das Kind, in dem es sich, und an
sich den Menschen überhaupt, zum ersten Mal mit Bewusstsein sieht. Es geschehen
hier also zwei Dinge: Das Kind wird an der Puppe zum Künstler, indem es im
Spiel seinen vagen Gefühlen und Ahnungen eine bestimmte Gestalt gibt. Darüberhinaus
schafft es sich einen Freund, einen Mitmenschen und Gegenspieler.
Insofern als
das Spiel schöpferisch ist, ist es eine Steigerung der natürlichen Möglichkeiten,
eine Idealisierung und Verewigung der Welt.
Fernen des
Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter
selig erfindender
fort, als im spätesten Nachwuchs,
weit über Enkel
hinaus -, die getroste Natur!
Freundin des
Todes, denn in der leichten Verwandlung
wuchs sie ihn
hundert mal durch …O Puppe
fernste Figur -,
wie die Sterne am Abstand
sich zu Welten
erziehn, machst du das Kind zum Gestirn.
Ist es dem
Weltraum zu klein: Raum der Gefühle
spannt ihr
erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum.
Rilke hat
sich hier zu einer Anschauung der Kunst durchgearbeitet, die der Goethes
ähnlich ist. Der Mensch als Gipfel der Natur, hat es in seiner Macht, im Geiste
die Natur weiterzuführen zu einer Perfektion, einer “Seligkeit”, die sie in der
realen Welt nicht erlangen kann. Dies geschieht, indem die natürlichen Gesetze
vollständig erfüllt werden. Weil der Mensch der Natur diese Vollendung geben
kann, “brauchen” die Dinge ihn. Bei Rilke ist aber das Ideal der Natur bis
zuletzt eines der Ruhe und der Dauer und deshalb grundsätzlich anders als bei
Goethe. Es steht hier der Makrokosmos des Weltraumes dem Mikrokosmos des
menschlichen Geistes, dem gesteigerten Raum der Gefühle, gegenüber. Das Kind im
Spiel lebt ähnlich wie der Sänger Orpheus; mit jeder neuen Gestalt der Puppe
stirbt es den Tod der alten Gestalt, überschreitet sie zur neuen, über die es
wiederum hinaus muss. Verwandlung oder Metamorphose ist das Dasein des idealen
Künstlers.
O wie er
schwinden muss, dass ihrs begrifft!
Und wenn ihm
selbst auch bangte, dass er schwände.
Indem sein Wort
das Hiersein übertrifft,
Ist er schon
dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter
zwängt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht,
indem er überschreitet.
Spielendes
Kind und singender Gott sind also ein und dieselbe Gestalt. Beide leben in der
Geistes- und Scheinwelt der Kunst. Spiel und Kunst können dadurch, dass sie
gesteigerte Natur sind, den Menschen auf das wirkliche Leben vorbereiten.
Stunden
geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos
drüben
geschaffenen Du sich erprobte und abhob –
Die
Schwierigkeiten entstehen dann, wenn diese Scheinwelt und die Wirklichkeit
zusammenkommen. Die Puppe als Ding hat in der wirklichen Welt gar keinen Sinn:
sie ist weder Mensch, als Freund zu gebrauchen, noch Gebrauchsgegenstand, den
man zu einem Zweck benützen kann. Es ist überhaupt nichts mit ihr anzufangen,
sie ist eine “oberflächlich bemalte Wasserleiche, die sich von den
Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit heben und tragen ließ”. Betrachtet man
sie als Ding, so geht alle Zärtlichkeit an ihr verloren. Sie gehört eben wie
das Kunstding in das Reich des Scheines.
Die Puppe
birgt in sich die Versuchung dazu, mit dem Selbstgeschaffenen, das im Grunde
gar nicht von dem Menschen, der es schuf, unterschieden ist, zu leben, es als
Wirklichkeit hinzunehmen. Das war sogar die Lösung, die Rilke in Paris eine
zeitlang für möglich hielt, als er meinte, Rodin lebte von seinen Statuen
umgeben in einer ruhenden ungefährlichen Welt. Aber ein derartiges Leben führt
zu Sterilität und Erstarrung. Nur auf sich selbst angewiesen, ist der Mensch
nicht mehr Mensch. Narziss, in sich selbst verliebt, will sich im Spiegelbild
besitzen und löst sich dadurch selber auf.
Narziss verging.
Von seiner Schönheit hob
sich unaufhörlich
seines Wesens Nähe,
verdichtet wie
der Duft vom Heliotrop.
Ihm aber war
gesetzt, dass er sich sähe,
Er liebte was ihm
ausging wieder ein
und war nicht
mehr im offenen Wind enthalten
und schloss
entzückt den Umkreis der Gestalten
und hob sich auf
und konnte nicht mehr sein.
In den
Entwürfen stehen folgende Zeilen, die darauf hindeuten, dass Rilke vorhatte, im
Gedicht “Lass dir dass Kindheit war …” die Puppe in den sehr komplizierten
Spiegelkomplex zu heben:
Spiegel, die
Abgründe der Puppe, sie fällt in den –
Und die Dinge
schämen sich für die Puppe
Spiegel –
Abläufe.
Wenn das Kind
von der Puppe sein ausgestrahltes Wesen zurückempfangen will, erfährt er “jenes
Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die
ganze sanft weitergehende Natur, wie ein
Lebloses über Abgründe hinüberhübe”. Seit Rilke sich dieser Gefahren im
Künstlertum bewusst geworden war, versuchte er nicht mehr, die Welt der Kunst
mit der der Wirklichkeit gleichzusetzen. Vor allem verleugnete er die Ansprüche
des Lebens nicht mehr.
II
Die Dinge des täglichen Umgangs und Gebrauchs in ihrem Symbolgehalt für
das menschliche Dasein: Haus, Krug, Brücke, Tor, Fenster, Obstbaum, Brunnen
Die Puppe ist
das Ding, das in die Scheinwelt des Geistes gehört – da im Puppenaufsatz die
Betonung auf dem Leben liegt, ordnet Rilke das Puppending der Welt der
launischen unbesonnenen Fee und des Götzen zu. Ihr gegenüber steht der
Gebrauchsgegenstand, der zur realen Welt gehört und zur Überwindung von
äußerlichen Nöten geschaffen wurde. Es gibt jedoch auch Dinge, die Kunst und
Nutzen, innere und äußere Welt verbinden. Zu ihnen gehören zum Beispiel der
Tempel und der Dom. Sie sind zu einem bestimmten Zweck gebaut worden, aber
dieser Zweck richtet sich auf Jenseitiges. Sie sind Haus, aber nicht ein Haus,
das vor allem Schutz und Zuflucht auf der Erde geben soll, sondern sind Symbol
für eine Heimat in der Ewigkeit. Sie wurden zur Ehre des Göttlichen gebaut, und
in ihnen dient der Mensch auch weiterhin dem Göttlichen. Handlung, Gebärde,
Gegenstand und Wort werden im Kultus symbolisch verstanden. Inneres wird dort
veräußerlicht, Äußeres verinnerlicht. Aber die heutige Welt, die ganz von
Zwecken beherrscht wird, hat keinen Sinn mehr für die zwecklose Handlung und
das nutzlose Gebrauchsding. Es kann den
Tempel nur entweder als Haus betrachten, in dem man zur Not zum Beispiel
Flüchtlinge unterbringen könnte, oder als Kunstgegenstand, der nur noch Objekt
der Betrachtung ist und mit dem wirklichen Leben nichts mehr zu tun hat. Der Zeitgeist
kennt keine Tempel mehr.
Diese,
des Herzens, Verschwendung
sparen wir
heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht,
ein einst
gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes -,
hält es sich, so
wie es ist, schon ins Unsichtbare hin.
Viele gewahrens
nicht mehr, doch ohne den Vorteil,
dass sie’s nun
innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!
Die Menschen
von heute können, so Rilke, nicht mehr spielen – auch der Kultus ist in diesem
Zusammenhang Spiel – und solche, die es noch können, wie zum Beispiel Kind und
Künstler, stehen in ständiger Gefahr,
das Gefühl für die Wirklichkeit des Lebens zu verlieren. Überhaupt wird
Handlung heutzutage nicht mehr symbolisch erfasst. Die christliche Welt sah alles Geschehen als
symbolische Kundgabe des göttlichen Willens. So bemühten sich die
mittelalterlichen Theologen, wie zum Beispiel Ottfried von Weißenburg, die
biblischen Gestalten und Geschichten sinnbildlich zu deuten, ohne jedoch dabei
ihre geschichtliche Wirklichkeit anzuzweifeln. Heute sieht sich der Mensch
nicht mehr als Teil eines größeren religiösen, also ideologischen Planes. Der
Erste Weltkrieg, den Rilke anfänglich als Kampf um bleibende Werte begrüßte,
machte es ihm bald ganz klar, dass seine Zeitgenossen nicht mehr fähig waren,
um eine Idee zu kämpfen. Die Armee war nicht Heer, sondern Masse. “So fürchterlich der Krieg an sich selbst
ist, dies scheint mir noch entsetzlicher, dass sein Druck nirgends dazu
beigetragen hat, den Menschen kenntlicher zu machen, ihn Gott gegenüber zu
drängen, den Einzelnen oder die Masse, wie das in früheren Zeiten die Kraft
großer Nöte war”, heißt es in einem Brief aus diesen Jahren. [26]Der
Mensch hastet vorwärts, handelt, baut, plant, aber da er selbst keinen
bleibenden Sinn in seinem Tun sieht, ist dieses Tun gestaltlos. “Weite Speicher
der Kraft schafft sich der Zeitfgeist, gestaltlos wie der spannende Drang, den
er aus allem gewinnt.” (7. Duineser Elegie) Und Rilke ruft verzweifelt: Wo ist
für uns hier das Sichtbare dieser verzweifelten Welt? In den Elegien wird schließlich
die Antwort hierauf gegeben: in den einfachen Dingen.
Sind wir vielleicht hier um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen,
Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, -
höchstens: Säule,
Turm …. Aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so,
wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu
sein.
Das ist die
Lösung, die die Neunte Duineser Elegie findet. Alle diese Dinge gingen aus den
ursprünglichen Nöten und Bedürfnissen des Menschen hervor. Sie weisen auf die
äußeren Gesetze des menschlichen Daseins in dieser Welt hin, einerlei ob sie
nunmehr durch die Anlage der menschlichen Natur oder die Gegebenheiten der
äußeren Welt bestimmt sind, und dadurch, dass sie mit notwendigen
Lebensgesetzen verknüpft sind, können
sie auch symbolisch auf die Geisteswelt des Menschen übertragen werden.
Einige der
hier genannten Dinge fanden schon im Stunden-Buch
symbolische Anwendung, vornehmlich das Haus und der Krug. Der Symbolkomplex des
Hauses hängt mit der Problematik des Kunstdinges zusammen. Das Haus gewährt
Heimat, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit, wie die Form in der das Kunstwerk
lebt. Im Hause kann man Besitz unterbringen.
Das Haus kann aber auch ein “fremdes Zimmer” sein und schlimmer noch ein
Gefängnis. Das Symbol des Kruges wäre als geistige Haltung im Dasein von Hirt
und Heiligem verwirklicht. Das sind die Menschen, die sich offen halten und
aufnehmen, bis sie überfließen, die die “ganze reine Gefährdung der Welt” auf
sich nehmen, ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken.
Brücke, Tor
und Fenster, die eine Verbindung zwischen ursprünglich Getrenntem herstellen,
veranschaulichen die Vorstellung des Bezugs und bekommen erst im Spätwerk ihre
volle Bedeutung. Die Brücke deutet auf ein Werk, das eine bleibende Verbindung
über einen Abgrund hinweg herstellt. So zum Beispiel im folgenden Gedicht:
Da dich das
geflügelte Entzücken
über manchen
frühen Abgrund trug,
baue jetzt der
unerhörten Brücken
kühn
berechenbaren Bug.
Wunder ist nicht
nur im unerklärten
Überstehen der
Gefahr;
Erst in einer
klaren reingewährten
Leistung wird das
Wunder wunderbar.
Mitzuwirken ist
nicht Überhebung
an dem
unbeschreiblichen Bezug,
immer inniger
wird die Verwebung,
und Getragensein
ist nicht genug.
Deine ausgeübten
Kräfte spanne,
bis sie reichen,
zwischen zwein
Widersprüchen
…Denn im Manne
will der Gott
beraten sein.
Tor und
Schwelle sind der Übergang von einer Welt in die andere und hängen mit der Idee
des “Überschreitens” zusammen. Das Fenster, wie auch der Spiegel, ermöglichen
einen Ausblick aus einer Welt in eine andere. Der Mensch, der in der äußeren
Erscheinung die inneren Äquivalente sieht,
blickt wie in einen Spiegel oder wie durch ein Fenster. Rilke hat einen
französichen Gedichtzyklus “Les Fenetres” geschrieben und eine ganze Reihe von
Spiegelgedichten. Nun zum Obstbaum: Der Mensch hegt und pflegt den Obstbaum,
bis schließlich die Frucht zur Reife gekommen ist. Am Baum und in der Hand
sieht man nur ihre Schale, dort ist sie äußeres Ding. Wenn man sie isst
jedoch, erfährt man sie innerlich: sie
wird innen verwandelt. Vom Brunnen, letztlich, handelt eines der Sonette an
Orpheus. Er muss von der Fontäne unterschieden werden, denn er ist
Gebrauchsding, während die Fontäne ein Kunstding ist. Die Natur an sich ist
gestaltlos, erst der Mensch kann ihr Gestalt geben. Er sammelt das Wasser im
Brunnen, bildet ihm den Brunnenmund, lehrt es das Wort, mit welchem es in das
Ohr der Erde spricht, und durch das die Erde sich selbst erst bewusst wird.
Derselbe Gedanke findet auch anderswo Ausdruck:
Raum greift aus
uns und übersetzt die Dinge
dass dir das
Dasein eines Baums gelinge,
wirf Innenraum um
ihn aus jenem Raum,
der in dir west.
Umgib ihn mit Verhaltung.
Er grenzt sich
nicht. Erst in der Eingestaltung
in dein
Verzichten wird er wirklich Baum.
Indem er das
Fließende sammelt, dem Formlosen Gestalt gibt, schafft der Mensch auch sich
selbst einen Zugang zur Natur. Es kann sich ein Krug einschieben.
Es gelingt
Rilke wirklich, anhand dieser Dinge viele Aspekte des Menschtums zu
veranschaulichen. Da es ihm um das Sein des Menschen und nicht um seine
Handlungsmöglichkeiten in der Welt geht, ist es ihm möglich, seine Philosophie
in statischen Symbolen dieser Art
darzustellen. Es scheint insofern nicht übertrieben, wenn Rilke meint,
es sei dem Menschen möglich, sich an den Gebrauchsgegenständen, die er sich
geschaffen hat, als metaphysisches Wesen zu begreifen. Es ist interessant, dass
Heidegger besonders in seinen Frühwerken dem Symbolwert der Dinge auch eine sehr
hohe Bedeutung zugeschrieben hat.
F.
Schluss: Charakterisierung der Klassik Rilkes
Rilke war in
seinem reifen Werk, an dessen Anfang man wohl das Rodinbuch und die Neuen Gedichte setzen darf, ein
Klassiker. Es ging ihm darum in den Erscheinungen die ewigen Gesetze
aufzudecken, die hinter dem Individuellen und Einmaligen verborgen liegen. Man
sieht jedoch auf den ersten Blick, dass sich Rilkes Klassik ganz wesentlich von
der Weimarer Klassik unterscheidet. Die beiden Epochen haben ein ganz anderes Menschenbild. Goethe und Rilke haben beide versucht ein
Schema zu finden, das das Gesetz des wahren Menschentums aufdecken könne.
Goethe schien es, dass er solch ein Gesetz in seinen naturwissenschaftllichen
Studien entdeckt habe. Der Mensch bei Goethe war ein lebendes, strebendes
Wesen. Rilke meinte durch sein Studium der Kunstdinge die Wesensstruktur des
Menschen begriffen zu haben. Er erfasste den Menschen als seiendes, ruhendes
Geschöpf. Aber auch die Auffassung vom Menschen, insofern er Bürger dieser Welt
ist, ist bei den Weimarer Klassikern und Rilke sehr verschieden. Für Schiller
und Goethe was der aktive, schöpferische Mensch, von dessen Bild, als Korrelat,
das Bild des leidenden Menschen immer abhängig ist, ein Handelnder und
Wirkender. Bei Rilke dagegen ist er ein Schaffender, Gestaltender. So kann man
sagen, dass während Schiller und Goethe gegen den Realismus im Handeln und für
den Idealismus kämpften, Rilke seinerseits gegen den Materialismus in der
Einstellung zum gestalteten Gegenstand und für den Symbolismus focht. Für
Schiller und die Weimarer Klassiker waren die Annalen der Geschichte das
Schatzhaus, in dem sich das wahre Menschentum erhielt und deshalb auch der Ort
an dem der Dichter, dessen Beruf es ist, solches Menschentum darzustellen, seine
Stoffe suchte. Denn die Geschichte berichtet von Handlungen und Taten. Dagegen
ware für Rilke dieses Schatzhaus des menschlichen Wesens das der Dinge, die der
Mensch durch die Jahrhunderte hergestellt hat, von den einfachsten
Gebrauchsgegenständen bis zu den großen Kunstwerken. In beiden Fällen, bei der
Weimarer Klassik und bei Rilke, kam es wenig auf den unwiderruflichen Zeitpunkt
und die einmalige geschichtliche Situation an, aus der Tat oder Werk
hervorgingen, und nicht auf das Ungewöhnliche und Exzentrische, sondern auf das
Notwendige und Dauernde. Das Charakteristische an Rilkes Klassik scheint mir
somit wirklich zu sein, dass sie sich an den Dingen orientiert. Man vereinfacht
nicht, wenn man von einer Kunst der Dinge spricht. Rilkes Einstellung zu den
Dingen ist ohne Zweifel der Kernpunkt seiner Weltanschauung.
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“
[1] Brief an Marie von Thurn und
Taxis-Hohenlohe, 19. November, 1920
[3] ibid. S. 30
[4] ibid. S. 57
[5] ibid. S. 54
[6] ibid. S. 65
[7] ibid. S. 65
[8] Brief an Clara Rilke, 20. September
1905
[9] ibid. S. 70
[10] Brief an Lou Andreas-Salome, 8.
August, 1903
[11] Brief an Clara Rilke, 19. Oktober
1901. Zitiert nach Walter Hess: Dokumente
zum Verständnis der modernen Malerei, 1956, S. 18
[12] Sedlmayr, Verlust der Mitte,
Ullstein 1955, S. 98 f.
[13] Brief an ein junges Mädchen, Briefe aus Muzot (Insel-Verlag) S. 18
[14] Brief an Clara Rilke, 2. Dezember
1906
[15] Brief an Marie von Thurn und
Taxis-Hohenlohe, 12. Juli 1902
[16] Sedlmayr, op. cit., S. 137
[18] Brief an Clara Rilke, 24. Juni 1907
[19] Brief an Withold von Hulewitz, 13.
November 1925
[20] Brief an Ellen Delp, 27. Oktober
1915
[21] Brief an Nora Purtscher Wydenbuck,
17. August, 1921
[23] Brief an Lou Andreas-Salome, 8.
August, 1903
[24] Brief an Clara Rilke, 19. Dezember,
1906
[25] Johan Huizinga Homo Ludens, Rowohlt 1956, S. 118
[26] Brief an Bernhard von der Marwitz,
9.März,1918