Tuesday, 25 September 2018

Rilke und die Dinge




Rilke und die Dinge

Silke Marita Beinssen





Thesis in partial fulfilment of the requirements for the Degree of Bachelor of Arts in the Honours School of Arts.



German IV, 1957

(Awarded the Sydney University Medal 1957)







Inhaltsverzeichnis

A.      Einleitung und Disposition

            I    Die Dingbezogenheit von Rilkes Lebens und Dichtens

            II   Versuch einer zeitgeschichtlichen Begründung für die                       Dingzuwendung Rilkes

B.        Das Frühwerk Rilkes

            I    Darstellung von Rilkes Naturgefühl und Naturvorstellung.            (Seinsgefühl statt Lebensgefühl)

            II  Erschütterung des Naturgefühls durch das                            
               Großstadterlebnis und Festigung der Einstellung zum Ding

C.      Erlebnis der bildenden Kunst und seine Auswirkung auf   Rilkes Weltanschauung und Kunstverständnis

         I   Wesenserfassung des Kunstwerks als Gestalt und formale           Auswirkung des neuen Formbewußtseins auf Rilkes Kunst

            II  Erlernen einer neuen künstlerischen Haltung dem Objekt                       gegenüber

            III Darstellung der skizzierten Entwicklung an einzelnen      Gedichten
           
            a) Die Situation des Menschen zur Form vereinfacht und in Analogie zum      Ding gesehen. Die Form von der Grenze und Mitte aus erfasst.

            b) Ausdeutung des Kunstwerks auf den Menschen hin.

            c) Übernahme weiterer Elemente aus der bildenden Kunst: Komposition,      Linie, Farbe.

            d) Begründung und Charakterisierung der Dinglyrik.

D      Der Weg vom Ding als metaphysischem Schema (Mitte,
         Grenze) zur Gestalt des Engels

            I   Notwendigkeit einer Selbstbegrenzung mit ihren Gefahren         und deren Überwindung
           
            a) Der Künstler als Arbeiter und Seher.

            b) Schwerpunktverlagerung vom Kunstwerk zum Schaffensakt des    Künstlers.
           
            c) Weisen künstlerischen Verhaltens zum Stoff: Schauen, Liebe.

            d) Erfahrung des Einbezogenseins im Weltganzen durch die Liebe      (Weltinnenraum). Das isolierte Ding wird zum Ding des Bezugs.

            II  Verfehlen einer sinnvollen Beziehung des Dichters zum   Menschen

E       Die gelebte und praktische Beziehung Rilkes zu den          Dingen

         I   Die Wandlung der Einstellung vom Ding als Spielzeug zum          Ding als Gebrauchsgegenstand

            a) Begründung der Bedeutung des Dinges für Rilke.

            b) Das spielende Kind in Analogie zum Künstler. Spielzeug, Kunstding.

            c) Auseinandersetzung mit den Problemen der Kindheit und des                    Künstlertums anhand des Puppensymbols.

            II  Die Dinge des täglichen Umgangs und Gebrauchs in ihrem          Symbolgehalt für das menschliche Dasein: Haus, Krug, Brücke,         Tor, Fenster, Obstbaum und Brunnen

F       Schluss

         Charakterisierung der Klassik Rilkes




Einleitung und Disposition

I    Die Dingbezogenheit von Rilkes Lebens und Dichtens


Rilke hat einmal in einem Brief das Bekenntnis abgelegt: “Ich habe das eigentümliche Glück, durch die Dinge zu leben.” [1]Das ist eine von vielen Gelegenheiten, bei denen er diese besondere Vorliebe für das Leblose, Anorganische in seiner Umwelt aussprach. Schon sehr früh wird das Wort “Ding” eines der Schlüsselworte seines Sprachgebrauchs, zu dem alle seine Ansichten und Gedanken irgendwie in Beziehung treten, und es behält diese Stellung bei. Auch noch in seiner endgültigen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Menschen und dem Sinn seines Lebens in der Welt, in den  Duineser Elegien, wird die menschliche Sendung in Bezug auf die Dinge ausgesprochen. Im täglichen Leben standen dem menschenscheuen Dichter die Dinge ebenfalls besonders nahe. Rilke verdichtete die dinglichen Eigenschaften und verlieh ihnen sowohl eine moralische wie eine metaphysische Vorbildlichkeit für den Menschen. Sie wurden Stoff und Thema seiner Dichtung und stehen an einem Kreuzpunkt, wo Leben und Werk, Mensch und Künstler sich treffen.

Es scheint insofern möglich, Rilkes dichterische Entwicklung im Zeichen des Dinges zu sehen, auf analoge Weise, wie man Shakespeares Werk oder die deutsche Humanitätsdichtung im Zeichen des Menschen, und die eines romantischen Dichters wie etwa Wordsworth im Zeichen der Natur betrachten kann, weil in jedem Fall das innigste Verhältnis zur Umwelt auf dem genannten Gebiet erfahren wurde und alles andere Erleben dadurch gefärbt. Wie zentral jeweils dies besondere Erlebnis ist, zeigt sich daran, dass es die Gottesvorstellung völlig beherrscht. In Zeiten, in denen das Menschenbild und die menschliche Gemeinschaft im Vordergrund stehen, ist der Gott ein personaler Gott und das Verhältnis zu ihm ist ein Ich-Du Verhältnis. Der christliche Gott ist zum Beispiel ein persönlicher Gott, der als Mensch gedacht wird; er wird als Herr oder Vater angesprochen und die Bibel berichtet, dass der Mensch als sein Ebenbild geschaffen wurde.  Wenn Schiller sich in dem Gedicht “Die Götter Griechenlands” gegen die christliche Religion empörte, griff er nicht das Menschliche an, sondern das Jenseitige. Er verlegte die Welt der Götter aus dem Himmel auf die Erde, aus der unsichtbaren in die sichtbare Welt, aber seine Götter behielten menschliche Gestalt. Der Mensch ist der Gipfel der Natur bei allen diesen Dichtern, und die ihm eigene Gabe der Vernunft oder des Geistes ist von besonderem Wert. Bei Naturdichtern, wie Wordsworth und Shelley, auch bei Mörike (trotz seines Pfarrerberufes, der eine christliche Weltanschauung nahelegen würde) ist der Gott Seele oder Kraft der Natur und offenbart sich im Wirken der Elemente oder im organischen Wachstum und seinem Kreislauf von Werden und Vergehen. Rilke dagegen nennt an einer Stelle im Stunden-Buch Gott “das Ding der Dinge”. Er gibt Rodin recht, als dieser erzählt, dass er beim Lesen eines Buches über die Nachfolge Gottes durchweg an die Stelle von Gott “Skulptur” gesetzt habe: “es stimmte”.

II   Versuch einer zeitgeschichtlichen Begründung für die                       Dingzuwendung Rilkes

Wenn man die europäische Entwicklung der letzten Jahrhunderte verfolgt, trifft es im großen Ganzen zu, dass sich der Standpunkt des Erlebens von Mensch, zu belebter Natur, zu unbelebter Materie verschoben hat. Wie wichtig heute das Anorganische ist, weist unsere Zivilisation überall auf.  Die Wissenschaften, die sich dem Anorganischen widmen, wie Physik und Chemie, stehen im Vordergrund. Das Streben des Menschen geht heute vor allem darauf aus, Macht über die Materie zu gewinnen und sie sich dienstbar zu machen. Im sozialen Leben sind mehr als je wirtschaftliche Fragen ausschlaggebend, also Fragen von Gütern und Besitz. Die schaffende Kraft, die früher das Lebendige war, ist heute in der Hauptsache eine physikalische Kraft. Die Menschenhand ist durch die Maschine ersetzt worden, das Reitpferd durch das Automobil, die natürliche Faser durch die Kunstfaser. Auch in der Philosophie ist die materialistische Richtung dominant. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn die Kunst sich auch weitgehend dem Anorganischen zuwendet.

Der Mensch, der seiner Veranlagung nach sowohl an Geist und Leben wie an Materie teilhat, begegnet in der reinen Materie nur einem dieser Aspekte seines Wesens. Es wird ihm deshalb sehr viel schwerer, die verschiedenen Seiten seiner Natur im Gleichgewicht zu halten und in diesem Sinne ein ganzer Mensch zu sein.  Immer mehr wird er darauf angewiesen, Geist und Leben in sich selbst zu suchen statt in dem begegnenden Anderen, wenn das Materielle in ihm nicht ganz die Vorherrschaft gewinnen soll. Er wird sich infolgedessen der verschiedenen Elemente seines Wesens überbewusst und es bildet sich der Menschentypus, den Schiller im Gegensatz zum naiven den sentimentalischen nannte. Die Welt zerfällt nun in Gegensatzpaare; überall werden Polaritäten oder geradezu Widersprüche fühlbar und der Mensch sucht nach Möglichkeiten, sich wieder als ein Ganzes zu fühlen und zu erleben, ein abgeschlossenes “Ding” zu sein.

Es muss wohl unbedingt als eine Störung angesehn werden, wenn in der Moderne weitgehend das einseitige Verhältnis zur Materie einem allseitigen vorgezogen wird, denn während die Beziehung zu anderen Menschen immer die zur organischen, wie auch zur anorganischen Welt, in sich beschließt und deshalb das Verhältnis zur Welt als Ganzheit nicht zum Problem wird, setzt das Verhältnis zur rein materiellen Welt, zu den Dingen, keineswegs eine wirkliche Beziehung zum Mitmenschen oder auch zur Natur voraus. Infolgedessen wird das menschliche Verhältnis zur Umwelt mit der Überbetonung des Anorganischen problematisch. Der Rilke der Dinggedichte, um den es uns hier geht, gehört in diesen zeitgeschichtlichen Zusammenhang.

Es ist mir durchaus bewusst, dass eine Arbeit, die Zeitgeschichtliches, Weltanschauliches, und im Folgenden auch Kusttheoretisches um einen einzigen Punkt zu versammeln sucht, etwas Bedenkliches unternimmt. Es scheint mir jedoch die einzige Möglichkeit zu sein, dem auf den ersten Blick sehr  verschiedenen, immer sehr umfassenden Gebrauch des Wortes “Ding” bei Rilke gerecht zu werden.

Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich zu untersuchen, ob andere moderne Dichter und Schriftsteller mit ihrem Denken und Dichten auf ähnliche Weise wie Rilke in die zeitgeschichtliche Entwicklung eingetreten sind. Es ließe sich aber gut denken. Sedlmayr hat in seinem Buch Verlust der Mitte eine parallele Richtung in der bildenden Kust aufgewiesen. Es soll hier keineswegs von einer notwendigen Entwicklung aus den zeitgeschichtlichen Verhältnissen die Rede sein, sondern nur von einer folgerichtigen, die in dieser Konstellation vielleicht nur bei Rilke zu finden ist. Es soll auch keineswegs gesagt werden, dass jene Dichter, die eben als “Dichter des Menschen”, oder “Dichter der Natur” genannt wurden, es je auf ganz dieselbe Weise waren, wie Rilke ein Dichter des Dinges ist. Trotzdem könnte man sich auch hier vorstellen, dass sich ähnliche Zusammenhänge finden ließen.




B.  Das Frühwerk Rilkes
I Darstellung von Rilkes Naturgefühl und Naturvorstellung.  (Seinsgefühl statt Lebensgefühl)

Es mag auf den ersten Blick befremden, dass Rilke, der zumindest in seinem Frühwerk, den Frühen Gedichten, dem Buch der Bilder und dem Stunden-Buch, hauptsächlich aus dem Erlebnis der Natur heraus zu dichten scheint, hier wesentlich als ein Dichter des Anorganischen dargestellt werden soll. Insofern ist es nötig, dass man sich über die Art seines Naturgefühls und seiner Naturvorstellung während dieser Zeit klar wird.

Wenn man die frühen Gedichte liest, fallen einem vor allem die Süße der Lautmelodie, die Zartheit der Rhythmik und die Gleichheit der Stimmung auf. Die Worte scheinen alle Schwere verloren zu haben und sind nur noch Musik. Eins wie das andere gemahnen diese  Gedichte an Wiegenlieder, die behutsam jeden harten Klang vermeiden und durch ein gleichmäßiges Fließen, zu dem Häufungen weicher Reime am Ende kurzer Zeilen, die mehrfache Wiederholungs des “und” in einer losen Aneinanderreihung, und zum Schluss das Hinüberfließen ins Schweigen ohne weckenden Abschluss, in den Schlaf tragen. Die Gedichte scheinen alle aus einem Zustand zwischen Schlaf und Wachen hervorgegangen zu sein, in dem die Sinne fähig werden, die feinsten Eindrücke wahrzunehmen, dabei aber von einer fast wehleidigen Empfindlichkeit sind. Rilke lauscht in die schweigende Natur;  er sieht Schatten und Schimmer, fühlt “scheue Schauer”, das Zittern der Bäume und Gräser, das Wellen der Wiesen im Winde. Auch die Natur ist von mimosenhafter Sensibilität.

            …..Die Äpfel ängsten an den Ästen,
                  und jeder Wind tut ihnen weh.

heißt es in einem Gedicht. Die blassen Knaben und stillen Mädchen, die Königskinder mit schweren Gewändern und alten Kronen, die durch diese Gedichte geistern, haben keine vitale Lebenskraft und keinen sinnvollen Platz innerhalb der Menschenwelt, sondern sind nur noch Gefühl und reich-schmückendes, zu schweres Gewand, sind traumhafte Atmosphäre, aus dem Bildergut der Romantik übernommen. Man könnte manchmal daran zweifeln, ob die sichtbare Welt für Rilke wirkliches Erlebnis war, und nicht viel eher seinem gleichbleibenden Gefühl als Begleitmelodie und Ausschmückung diente. Den Dichter zeichnet eine nervöse, fast krankhafte Empfindlichkeit aus, die im Körperlichen verhaftet bleibt; die Natur ist zitternde, flimmernde Oberfläche, von Wind und Sonne und nicht von einer treibenden Lebenskraft bewegt.

Angesichts der russischen Landschaft, die Rilke auf einer Reise im Jahre 1899 kennenlernte, vertiefte sich sein Naturgefühl, das bis dahin im rein Sinnlichen verhaftet gewesen war, zu einem religiösen Erlebnis.  Dieses fand seinen Niederschlag in den ersten beiden Büchern des Stunden-Buches. Wesentlich hat sich hier nichts gegen die Frühen Gedichte verändert. Rilke steht dem lebendigen Wachstum der organischen Einheit des Lebewesens noch genauso verständnislos gegenüber. Nur die Nervosität seiner Empfindung beruhigt sich, die Gleichheit des Rhythmus, die schon für das Flimmern und Zittern bezeichnend war, vertieft sich hier zur Monotonie, zum Gesetz, schließlich zur Ruhe und zum Dunkel. Aber auch im Stunden-Buch bleibt sich die Stimmung gleich, und der Rhythmus ist ein stetiges, gleichmäßiges melodisches Fließen.

Goethe sah in allem organischen Leben eine Mischung von Freiheit und Notwendigkeit, und diese Auffassung wird von der modernen Naturwissenschaft bestätigt. Für Rilke aber gibt es in der Natur nur Gesetz.  Die Kräfte gehen “dienend’ durch die Pflanzen.  Gehorsam ist die charakteristische Eigenschaft alles Organischen und Anorganischen.  Durch das Gesetz, dem sie gehorchen, sind die Menschen unmittelbar mit Gott verbunden. Gott ist die Wurzel, oder die Erde, aus der sich die Bäume erheben. Es ist bezeichnend, daß Rilke die Gottverbundenheit am besten an leblosen Dingen darstellen kann. Gott wird zum Beispiel mit einem Meer verglichen, aus dem sich die unverdorbene Natur wie ein Felsen erhebt und das sich in einem gesetzmäßigen, eintönigen Wellenschlag bewegt. In einem Gedicht aus dem “Buch der Pilgerschaft” wird die Natur damit charakterisiert,  dass sie dem Gesetz der Schwere untersteht.

Wenn etwas mir vom Fesnster fällt
(und wenn es auch das Kleinste wäre)
wie stürzt sich das Gesetz der Schwere
gewaltig wie ein Wind vom Meere
auf jeden Ball und jede Beere
und trägt sie in den Kern der Welt.

Ein jedes Ding ist überwacht
von einer flugbereiten Güte
wie jeder Stein und jede Blüte
und jedes kleine Kind bei Nacht.
Nur wir, in unsrer Hoffahrt, drängen
aus einigen Zusammenhängen
in einer Freiheit leeren Raum,
statt, klugen Kräften hingegeben,
uns aufzuheben wie ein Baum.
Statt in die weitesten Geleise
sich still und willig einzureihn
verknüpft man sich auf manche Weise, -
und wer sich ausschließt jedem Kreise,
ist jetzt so namenlos allein.

Da muss er lernen von den Dingen,
anfangen wieder wie ein Kind
weil sie, die Gott am Herzen hingen,
nicht von ihm fortgegangen sind.
Eins muss er wieder können, fallen
geduldig in der Schwere ruhn,
der sich vermaß, den Vögeln allen
im Fliegen es zuvorzutun.

Man wird hier unwillkürlich an Schillers Zeilen aus “Die Götter Griechenlands” erinnert:

Unbewusst der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,
Nie gewahr des Geistes, der sie lenket,
Sel’ger nie durch meine Seligkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre.
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.

Wie Rilke zur selben Zeit in seinem Aufsatz über die Worpsweder Landschaft schreibt, existiert diese Natur völlig unabhängig vom Menschen; auf ihre Schönheit kommt es nicht an. Das Mechanische erhält aber ein neues Gesicht bei Rilke, denn es ist ihm im Grunde wenig um das Leben zu tun, sondern vor allem um das, was jenseits der Zeit steht: das Sein.

Du sagtest Leben laut und Sterben leise
und wiederholtest immer wieder: Sein.

So deutet er den Weltwillen Gottes.  Insoweit das Leben Gesetz und Monotonie ist, steht es außerhalb der Zeit und ist wesentlich Ruhe und Stillstand. Im Bild des Rades wird die Idee der Einheit von immer wiederkehrendem Gesetz und der ruhenden Mitte veranschaulicht:

Du bist ein Rad, an dem ich stehe:
von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her, …

Was hier vor allem deutlich werden soll ist, dass das Lebensgefühl einem Seinsgefühl Platz gemacht hat. Damit nähert sich der Organismus, insofern er bewegt ist, einem Mechanismus und insofern er Gestalt ist, einem Ding. So kommt es, dass Rilke im Stundenbuch auch von Bäumen als Dingen spricht.  In den “Geschichten vom Lieben Gott” wird erzählt, dass Gott zuerst die großen wirklichen Dinge schuf “als da sind Felsen, Gebirge, ein Baum”.  Die Landschaft spricht Rilke’s Gefühl durch ihre Weite an, in der sich einige wenige scharf umrissene Dinge erheben, es mögen Bäume, Kurgane oder Häuser sein, also indem sie Raum und Form ist. In ihrer räumlichen Dimension ist jedoch die Landschaft nicht eigentlich mehr Natur.  Rilke hat die lebendige Natur zu keiner Zeit seines Lebens wirklich erkannt. Am nächsten hieran reicht er in dem 1902 entstandenen “Herbsttag”. In diesem Gedicht, das vielleicht als das schönste der Frühzeit gelten darf, wird ihm gerade dieser Verlust der lebendigen Natur zum Erlebnis. Nur noch wenige Tage, und die Früchte werden reif sein; der Sommer ist vorüber, und es werden jetzt über die weiten Fluren die Winde das schlafende Leben und die toten Blätter von aussen bewegen. Vielleicht unbewusst scheint auch hier das Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, zugrunde zu liegen.  Es taucht im Stunden-Buch immer wieder auf:

Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.
Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,
das Gott und du und ich beschrieben hat
und das sich hoch in fremden Händen dreht.

Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,
auf der noch alles werden kann.

Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite
und sehn einander dunkel an.

Auch wenn sich Rilke zu dieser Zeit dessen noch nicht klar bewußt war, ist dies die Wende zur Zeit der Technik, und mochte er sich innerlich noch so sehr gegen seine Zeit auflehnen, er war wie wenige andere in ihr befangen. Der neue Gott, auf den er zustrebte, der “werdende Gott”, war eine Weltanschauung, eine Auffassung vom Menschen und von der Kunst, die ganz in dem Geist dieser Epoche wurzelt.

Obwohl Rilke meint, im Stundenbuch eine Natur und Lebensmystik zu verkünden, hat er in seiner Philosophie Natur und Leben schon überwunden. Die Anbetung des Lebendig-Natürlichen, die für das religiöse Gefühl der Klassik und der Romantik bestimmend war, wurde in der Philosophie Schellings zu einer allgemeinen Weltanschaung systematisiert, die aller Naturdichtung der Spätromantik unbewusst zugrunde lag. Auch Rilke steht im Stunden-Buch noch innerhalb der romantischen Tradition, die ihm jedoch im Grunde nicht mehr sehr viel bedeutet. Es ist übernommenes, nicht erworbenes Gedankengut. Seine Mystik hat mehr mit der des Ostens gemeinsam, die aus der lebendigen Gestaltenfülle der Welt in die absolute Ruhe des Nirvana strebt, in einen Zustand, der uns Europäern  schwer fasslich ist, weil er nur als ein Nichts beschrieben werden kann. Wie dicht Ruhe und Stillstand an ein Nichts heranreichen können, begriff Rilke damals noch nicht; davor schützte ihn die lebendige Natur, die ihn in Russland, in Schmargendorf und in Worpswede umgab.

Die oft umstrittene Frage,  wie weit Rilkes Stunden-Buch der Ausdruck wirklicher Religiosität ist,  kann hier nicht erörtert werden. Rilke fühlte sich auch zu dieser Zeit vor allem zum Künstler berufen, und im Zusammenhang mit seiner Kunst muss seine Mystik als die Haltung des Lyrikers, der immer aus der allen Abstand überwindenden Verschmelzung mit seinem Gegenstand heraus dichtet, verstanden werden. Die Grundhaltung des Lyrikers ist immer die Liebe gewesen, weil in ihr die größtmögliche Nähe zum Gegenstand erreicht wird: die Liebe zu einem anderen Menschen oder zur Natur.  Wir sahen, dass Rilke nicht an die Liebe zu einem anderen Menschen glaubte. Die Liebenden täuschen sich miteinander nur über ihr wirkliches Los hinweg, heißt es bei ihm. Das Naturgefühl, aus dem die Lyrik seiner ersten Schaffensperiode hervorgegangen war, wurde durch das Erlebnis der Großstadt, das ihn mit seiner Übersiedlung nach Paris überwältigend traf, vollkommen erschüttert. Es war, wie gesagt, von Anfang an auf keinem festen Boden gegründet gewesen. Rilke ist in Paris von den wirklichen Dingen umgeben und wird nun gezwungen, die Ideen, deren volle Tragweite und Bedeutung er bis dahin noch nicht erfasst hatte, zu durchdenken und zu durchleiden: das Versprechen, das er als Mönch des Stunden-Buches abgelegt hatte: “ich will die Dinge so wie keiner lieben, bis sie dir [Gott] alle würdig sind und weit”; den Anspruch in der Worpsweder Monographie: “indem er [der Künstler] die Menschen zu den Dingen stellt, erhebt er sie: denn er ist der Freund, der Vertraute, der Dichter der Dinge”; jenen Anruf an den Menschen: “demütig sei jetzt wie ein Ding”; die Sehnsucht nach Gott als “einem einigen Verstande, der mich wie ein Ding überschaut”; ja, die Vorstellung, dass Gott selbst “das Ding der Dinge” sein könnte. Er muss sich jetzt damit auseinandersetzen, was ihm Gott, der Mensch, die Welt und die Kunst wirklich bedeuten. Hier steht ihm nicht wie den Spätromantikerns eine Philosophie zur Verfügung, auf die er sein Weltgefühl gründen kann. Er muss selbst zum Denker und Philosophen werden, und so kommt es, dass seine Dichtung jetzt sehr oft einen philosophischen Einschlag hat, wie ja auch die Dichtung der Frühromantik, zum Beispiel, die sich ihren Naturglauben auch erst auf dem Wege des Gedankens erringen musste. Seine Lyrik bekommt ebenfalls ein neues Gesicht und einen neuen Klang, denen nichts, was die deutsche Dichtung bis dahin hervorgebracht hatte, gleichkommt. Denn diese neue Lyrik Rilkes geht im Einklang mit seiner Weltanschauung aus der Liebe zu den Dingen hervor.  Es sind die Dinggedichte, von denen vielleicht das reinste und schönste die “Römische Fontäne” ist.

II  Erschütterung des Naturgefühls durch das Großstadterlebnis und Festigung der Einstellung zum Ding

Rilke hatte beim Anblick der Natur eine wunderbare Gottgeborgenheit empfunden. Er war ihr auf dem Grund des Lebens begegnet, und seine Triebe und Gefühle, - die Eigenschaften, durch die Geist und Körper in eines geschmolzen werden – fanden ihren Widerhall im triebhaften Wachstum der Natur.  Beim Anblick der Häuser und Straßen der Großstadt antwortet jedoch nichts Lebendiges seinem Gefühl; er sieht nur geistlose, leblose Materie. In Paris überkommt Rilke immer wieder die Ahnung des Nichts, aber nicht im positiven Sinne als Nirvana, als Ziel des Lebens, sondern im negativen Sinne. Er erlebt die Angst, “jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause,  in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloser über Abgründe hinüberhübe”. So beginnt das dritte Stunden-Buch mit der erschütternden Frage: “geh ich in dir [Gott] jetzt? Bin ich im Basalte wie ein noch ungefundenes Metall? … Oder ist das die Angst, in der ich bin?  Die tiefe Angst der übergroßen Städte, an die du mich gestellt hast bis ans Kinn?”

Die einzige Möglichkeit für den Menschen, an dieser Begegnung mit dem Leblosen nicht zugrunde zu gehen, ist, dass er ihm Geist einhaucht, indem er ihm eine Bedeutung gibt. Die Materie, in die sich der Geist des Menschen ergossen hat, das heißt also im Grunde jedes Ding, das der Mensch gemacht hat, oder sinnvoll in sein Leben einbeziehen kann, ist dann kein Nichts mehr.  So wird also der Mensch, insofern er Materie gestaltet und sinnvoll macht und insofern er die Bedeutung der Dinge erkennt, eigentlich erst wirklich Mensch. Und der Künstler, besonders der bildende Künstler, der sich vor allen anderen dieses zur Aufgabe gemacht hat, stellt den Gipfel des Menschentums dar. Vor allem muss der Mensch sich unbedingt davor hüten, nur den materiellen Wert der Dinge anzuerkennen. Die materialistische Einstellung beschreibt Rilke mit dem Wort “Besitz”. Der Mensch soll ganz arm werden, so arm wie Franz von Assissi, von dem das letzte “Buch von der Armut und dem Tode” erzählt, der “zu seiner großen Armut so erstarkte, dass er die Kleider abtat auf dem Markte und bar einherging vor des Bischofs Kleid”. Dieses ist der Sinn der Armut, die Rilke in diesem Buch und auch im Malte Laurids Brigge beschreibt. Es gibt zwei Arten von Armut, eine negative, für welche die Fortgeworfenen von Paris ein Beispiel sind, die nicht besitzen, aber auch keinen inneren Sinn erkennen, die aber nach Rilke trotzdem ein echteres Dasein haben als die Materialisten, und dann die positive Armut, für die der Heilige Franz von Assissi und der Maler van Gogh als Beispiele genannt werden, und die “ein großer Glanz von Innen” geworden ist. Es muss jedoch im Sinn behalten werden, dass diese Armut nicht asketischer Art war und nicht weltentsagend, sondern gerade das Gegenteil. Sie bedeutet allein, dass der Mensch seine Umwelt nicht äußerlich, sondern innerlich verstehen soll.

Es gibt in der Hautptsache zwei Arten, wie Dinge innerlich verstanden werden können: sie können entweder als Kunst oder als Symbol Bedeutung haben. Wenn man grob einteilen will kann man sagen, dass Rilke in seiner ersten Schaffensperiode vor allem das Kunstding beschäftigt, dann nach einer Krise, die auf den Abschluss des Malte folgte, der symbolische Gegenstand wichtiger wurde. Bei Rilke reicht diese Vergeistigung des Dinges manchmal sehr dicht ans Absurde heran, besonders, wenn er zum Beispiel versucht, an einem Gebrauchsgegenstand das Wesen des einstigen Besitzers abzulesen. Den meisten Menschen wird es jedoch auch merkwürdig erscheinen, wenn sie die Dinge ihrer Umgebung als Symbole oder als Kunstgegenstände betrachten sollen. Derjenige, für den die natürliche Beziehung zu den Menschen und zum Leben noch gesund erhalten ist, wird sich fragen, warum er die materiellen Dinge seiner Umgebung nicht als Materie behandeln, gebrauchen und besitzen soll. Diese ganze Weltanschauung kann allein im Zusammenhang mit den Verhältnissen, die unsere moderne industrielle Zivilisation mit sich brachte, verstanden werden. Nur durch die kolossale Überbetonung materieller Sachen, zu der sie Anlass gibt dadurch, dass man in einer Umgebung von Dingen lebt und sich dauernd mit der Herstellung, der Beförderung, oder dem Verkauf von Gegenständen beschäftigt, die nicht aus der freien Erfindung hervorgehen und für das eigene Leben sinnlos sind und weder unsere Phantasie noch unsere Bedürfnisse befriedigen, wurde diese intensive Auseinandersetzung mit der dinglichen Welt nötig.

Auch die Zeit hat sich im modernen Leben selbständig gemacht. Hatte sie früher einen allgemein organischen Charkter, so hat sie heute mathematischen Charakter. Zeit war früher der Rhythmus von Schlafen und Wachen, sie war Säen, Reifen, Ernten der Saat, die Lebensspanne eines Menschen, die Regierungszeit eines Königs, oder die Entwicklung vom Anfang bis zum Niedergang, die ein Volk durchmachte. Heute wird sie allgemein in Zahlen ausgedrückt und mit der Uhr gemessen. Dadurch, dass sehr oft auch nachts gearbeitet wird, fügt sich der Lebensrhythmus des Menschen nicht mehr unbedingt in den von Tag und Nacht. Von den Jahreszeiten merkt man in der Stadt wenig. Dagegen ist das Lebenstempo sehr viel rascher geworden. Aber der Mensch, der sich nach der Uhr beeilt, kann diese Eile gewöhnlich nur im Hinblick auf ein System, in das er wenig Einblick hat, rechtfertigen.  Auch im großen hat diese Generation das Gefühl für eine sinnvolle Zeit verloren. Der Forschrittsglaube, in den sich im letzten Jahrhundert der Gedanke von einer organischen geschichtlichen Entwicklung verwandelte, ist durch die beiden Weltkriege nachhaltig erschüttert worden.  Aber schon vorher war der Wert der Resultate, did die Technik brachte, angezweifelt worden. Nur dadurch, dass die Zeit sich in diesem Maße selbständig gemacht hatte, wurde es überhaupt möglich, sie wie Rilke ganz abzulehnen, sowohl als Geschichte, die sich für ihn in die Gleichzeitigkeit alles Gewesenen verwandelte, wie als Schicksal, das für ihn nicht mehr als eine Folge von Zufällen war, denen sich der Mensch möglichst wenig aussetzen soll.  Nur eine solche Handlung, die aus dem inneren Müssen des Menschen entsteht und, ohne auf äußere Umstände Rücksicht zu nehmen, direkt auf ihr Ziel hinstrebt, scheint Rilke noch sinnvoll. Der Mensch muss in seinem Handeln autonom werden, wenn er nicht durch Zurückgezogenheit und Einsamkeit überhaupt alle Tätigkeit vermeiden kann. Die zwei möglichen Existenzweisen sind für Rilke entweder Passivität, wie sie der Hirt, der Heilige und der schauende, aufnehmende Dichter besitzen, oder das Handeln in einer eindeutigen Willensrichtung, wie es erstmalig im Wandern des Pilgers angedeutet ist, dann im Arbeiten des Künstlers, und letztlich in der Tat des Helden. Rilkes Auffassung vom Großstadtleben wird in dem folgenden Gedicht ganz klar:

Die Städte aber wollen nur das ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf,
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.

Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.

Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
Das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß und sie sind klein
und ausgeholt und warten, dass der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.







C.        Erlebnis der bildenden Kunst und seine Auswirkung               auf Rilkes Weltanschauung und Kunstverständnis

           
Die Beschäftigung mit der bildenden Kunst begann bei Rilke schon sehr früh. Sieber berichtet in seinem Buch über den jungen Rilke, dass dieser eine Zeitlang geschwankt habe, ob er Maler oder Dichter werden solle.  In dem frühen Gedichtband Larenopfer werden unter Gebäuden, Hausrat und dergleichen auch immer wieder Kunstgegenstände erwähnt. Der Gedichtzyklus “Aus dem dreißigjährigen Kriege” in Larenopfer wurde durch eine Bilderserie angeregt. Während seines Aufenthaltes in Florenz und Viareggio im Jahre 1898 beschäftigte sich Rilke intensiv mit der Malerei der italienischen Renaissance und schrieb im sogenannten Florenzer Tagebuch seine Eindrücke für Lou Andreas Salome nieder. 1898 und zwei Jahre später war er wieder bei Heinrich Vogeler in Worpswede zu Besuch und lernte dort die Worpsweder Künstler kennen, in deren Kreis er nach seiner Vermählung mit Clara Westhoff ein Jahr lang lebte. Während dieser Zeit begann er an einer Serie von Monographien über die dortigen Künstler zu arbeiten, von der jedoch nur die Einleitung fertig wurde. Ende August 1902 kam Rilke dann nach Paris mit dem Auftrag, ein Buch über den Bildhauer Rodin und seine Kunst zu schreiben. Von dieser Zeit an steht viele Jahre das Erlebnis der bildenden Kunst im Vordergrund.

I   Wesenserfassung des Kunstwerks als Gestalt und formale           Auswirkung des neuen Formbewußtseins auf Rilkes Kunst

Malerei und Skulptur unterscheiden sich namentlich in drei Punkten von anderen Kunstrichtungen. Sie sind unabhängig von der Zeit, sowohl in der Form wie auch im Inhalt. Ein Dichtwerk , eine musikalische Komposition oder ein Tanz sind auf ein Nacheinander von Worten, Tönen oder Bewegungen angewiesen, und können nur in der Zeit dargebracht werden.  In der bildenden Kunst ist das ganze Werk gleichzeitig vorhanden. Es ist deshalb auch immer nur möglich in der Darstellung einen einzigen Augenblick aus der Zeit herauszugreifen, wobei es dem Künstler überlassen bleibt, einen Bezug zum Vorher durchscheinen zu lassen, wie zum Beispiel in der Historienmalerei, dem Augenblick Allgemeingültigkeit zu geben, wie im Portrait, oder aber wie in der impressinistischen Skizze die Einmaligkeit des Moments zu betonen.

Die Notwendigkeit, auch schon das Modell unabhängig von der Zeit zu sehen, sagte Rilke zu. Ein zweites Merkmal der bildenden Künste ist, dass sie nur visuelle Eindrücke wiedergeben können.  Ein drittes Merkmal, das schon erwähnt wurde ist, dass Gegenstände der bildenden Künste, vor allem Skulpturen, als Dinge betrachtet werden können und so ein Teil der ständigen Umgebung des Menschen sein können.

Rilke suchte in Paris Zuflucht vor der Unpersönlichkeit der Großstadtwelt nicht in der Gemeinschaft mit Menschen – er lebte möglichst einsam und zurückgezogen -, auch nicht in der freien Natur, die in seinen Briefen und Gedichten wenig erwähnt wird, sondern bei der Kunst. Er lebte bei Rodin umgeben von Bildwerken; nicht nur in den Ausstellungshallen von Meudon sah er sie, sie schmückten auch sein Zimmer aus und standen draußen im Garten. In der Stadt besuchte erdann  die Museen und verbrachte ganze Tage dort. Er besah sich immer wieder die alten stilechten Gebäude, wie die gotischen Dome und die königlichen Paläste. Er erlebte die Parks mit ihren Wegen, Brunnen, Brunnenfiguren, Rasenplanen, Teichen, Alleen, Balustraden und Altanen als eine Natur, die vom Menschen zum Kunstwerk angeordnet worden war und deren natürliches Leben nun in den Dienst einer menschlichen Ausdeutung getreten war. Die Stadt konnte ihm auch Kunstgegenstände in reichem Maße bieten, und dies wird einer der Hauptgründe für Rilkes Liebe zu Paris gewesen sein.

II  Erlernen einer neuen künstlerischen Haltung dem Objekt                       gegenüber

Es gibt zwei Hauptmomente in Rilkes Kunsterlebnis in Paris. Er lernte das Wesen des Kunstwerks zu erfassen, insofern es Gestalt ist, und er lernte die Haltung des Künstlers seinem Material und seinem Modell gegenüber. Rilke wurde bei Rodin eigentlich zum ersten Male auf Form aufmerksam. Es ist oft etwas abfällig gesagt worden, dass sich Rilke in Paris einfach auf das Nacherleben von Kunst beschränkt habe. Dies ist nur sehr bedingt richtig. Unter Nacherleben versteht man im allgemeinen ein Nacherleben des Inhaltes, besser des Gehaltes. Wenn Rilke die Kunst Rodins nur nacherlebt hätte, dann hätte er sich vielleicht von Rodins Menschenbild beeinflussen lassen. Aber es machte in der Tat fast gar keinen Eindruck auf ihn. Er sah Rodins Statuen im Grunde nur insoweit als sie Form waren,  aber die Erkenntnis der Form wurde ihm zu einem metaphysischen Erlebis.  Was dies genau bedeutet lässt sich am besten erkennen, wenn man Rilkes Dingerlebnis in Analogie zu Goethes Naturerlebnis sieht.

Goethe hatte bei seinen naturwissenschaftlichen Studien scheinbar das Grundgesetz alles natürlichen Lebens entdeckt.  Es gibt zwei große Triebräder aller Natur, schreibt er 1828 an von Müller, die mit den Begriffen Polarität und Steigerung zu kennzeichnen sind, “jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerwährendem Aufsteigen”. Polarität fand er in der abwechselnden Ausdehnung und Zusammenziehung des Blattes, die das Wachstum der Pflanze bestimmen. In der Farbenlehre erklärt er, wie Farben physikalisch aus einer Mischung von Licht und Finsternis entstehen, sich für das menschliche Auge in Komplementärfarben gruppieren, die das Auge anerkennt, indem es als Reaktion auf eine starke Farbe den farbigen Schatten einer Komplementärfarbe auf einen neutralen Hintergrund projiziert.  Psychologisch wirkt sich die Polarität der Farben so aus, dass die Farben, die sich im Farbkreis gegenüberliegen, in entgegengesetzte Stimmungen versetzen. Die Plus-Farben, Gelb bis Gelbrot stimmen regsam, lebhaft, strebend, die Minus-Farben, Blau bis Blaurot, erregen unruhige, weiche, sehnende Empfingungen.  Die Steigerung der Plus- und Minus-Pole im Purpur bewirkt eine Kombination und Steigerung der eben genannten Empfindungen, in einem Gefühl von großer Kraft und Würde.  So ist also diese Gesetzlichkeit auf verschiedenen Ebenen der Natur  anzutreffen, der physikalischen, der biologischen und der psychologischen. Darüberhinaus war für Goethe das Licht ein kosmisch-göttliches, uranfängliches Prinzip und als solches auch physikalisch unteilbar. “Man hat ein Mehr oder Weniger, ein Wirken - ein Widerstreben, ein Tun – ein Leiden, ein Vordringendes – ein Zurückhaltendes, ein Heftiges – ein Mäßiges, ein Männliches - ein Weibliches überall bemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis anwenden und benutzen mag”, schreibt Goethe im Vorwort zur Farbenlehre. “Dieses Gesetz ist in allem Realen als Ideal vorhanden und insofern wird jeder Einzelfall Symbol für alle Fälle. Die Lehre von den chemischen Wahlverwandtschaften kann symbolisch auf die Beziehung zwischen Menschen angewendet werden. In diesem Roman ist Polarität auch zu einem Stil- und Formprinzig geworden.”

Goethe fand den Schlüssel zu einem Verständnis der Welt in der Naturwissenschaft, Rilke in der Kunstwissenschaft. Das Rodinbuch und die Briefe aus der ersten pariser Zeit erweisen sich hier als sehr aufschlussreich. Rilke erkannte zwei Momente im Kunstwerk, Form und Idee, die er in der Vorstellung von Kontur und Mitte schematisierte, oder genauer genommen: im Kreis, als der perfekten Kontur, und Mitte. Das Kunstding – der Name betont die Verbindung von Materiellem und Ideellem – wurde für Rilke ein Urphänomen und konnte deshalb auch für Natürliches, Menschliches und Göttliches Symbol werden. Die Gegensatzpaare, die sich in dieses Schema einfügen ließen, waren etwa folgende: Außen und Innen, Materie und Geist, Einsamkeit und Wesentlichkeit, Isoliertheit und Verbundenheit mit dem All, Begrenztheit und Freiheit, Geschlossenheit und Geöffnetsein, Vollendung und Unendlichkeit. Im Zusammenspiel dieser Gegensatzpaare wird jeweils Perfektion erlangt.

In der Kunst müssen sich Form und Idee das Gleichgewicht halten; nur so wird Schönheit möglich. Im menschlichen Leben muss ein jeder seine notwendige Einsamkeit hinnehmen, der besitzenden Liebe zum anderen entsagen, um sich selbst ganz wesensgerecht zu entwickeln; nur in einer solchen Entsagung ist Sittlichkeit. Schuld entsteht, sowie man diese Einsamkeit durchbrechen will.

In diesem Zusammenhang werden die Beschreibungen der Kunstgegenstände, die Rilke im Rodinbuch und in den ersten Briefen aus Paris gegeben hat, verständlich:

Das plastische Ding gleicht jenen Städten der alten Zeit, die ganz in ihren Mauern
lebten; die Bewohner hielten deshalb nicht den Atem an und die Gebärden des Lebens
brachen nicht ab.
Der große Kreis muss sich schließen, der Kreis der Einsamkeit in der ein Kunstding             seine Tage verbringt.
Was die Dinge auszeichnet, dieses ganz-mit-sich-Beschäftigtsein, das war es was einer Plastik  ihre Ruhe gab; sie durfte nichts von Außen verlangen oder erwarten, sich auf nichts beziehen, was draußen lag, nichts sehen, was nicht in ihr war. Die Bewegung geht innerhalb der Dinge vor sich, gleichsam als innerer Kreislauf.[2]

Rilke beschreibt das Mit-sich-Gesättigtsein, die Unabhängigkeit, das vollkommene Gleichgewicht des Dinges.  Er vergleicht es an einer Stelle mit einer Insel. Auch das Thema der Plastiken deutet er mit Vorliebe von der Form her, wie er sie als Grundprinzip für das Leben im allgemeinen erkannte.  So heißt es zum Beispiel: “Immer wieder kam Rodin bei seinen Akten auf dieses Sich-nach-innen-Biegen zurück, dieses angestrengte Horchen in die eigene Tiefe.” [3] Die Gebärde spiegelt die Geschlossenheit der Plastik. Rilke deutet auch mit Vorliebe die Gestalten als einsame Menschen. Die Victor Hugo Statue beschreibt er folgendermaßen: “Victor Hugo ist hier der Verbannte, der Einsame von Guernesey, und es ist eines von den Wundern dieses Denkmales, dass die Musen, die ihn umgeben, nicht wie Gestalten wirken, die den Verlassenen heimsuchen; sie sind im Gegenteil seine sichtbar gewordene Einsamkeit.”[4] Der Künstler fasst in seinem Werk viele Augenblicke zusammen und konzentriert sie um eine innere Mitte. “Aus allen Weiten ihres Wesens sind diese Menschen zusammengeholt, alle Klimaten ihres Temperamentes entfalten sich auf den Hemisphären ihres Hauptes.” [5][6]

Auch die Weite, die Unendlichkeit der Idee, beschreibt Rilke gleichnishaft. Sie wird ihm, zum Beispiel, an einer Statue deutlich, die Rodin den “Verlorenen Sohn” nannte, die nun aber, man weiß nicht woher, sagt Rilke, auf einmal den Namen “Prière” hat. “Und sie wächst auch über diesen hinaus. Das ist nicht ein Sohn, der vor dem Vater kniet. Diese Geste – eine Geste der Anrufung ohne Grenzen – macht einen Gott notwendig, und in dem, der sie tut, sind alle, die ihn brauchen. Diesem Stein gehören alle Weiten; er ist allein auf der Welt.” [7]Ähnlich erzählte er in einem Brief, wie er auf einem Spaziergang durch Rodins Garten mit dem Hausherrn an einen Hügel gekommen sei, “auf dem in fanatischer Einsamkeit ein Buddha-Bildnis ruht, die unsägliche Geschlossenheit seiner Gebärde unter allen Himmeln des Tags und der Nacht in stiller Zurückhaltung ausgebend.”  “C’est le centre du monde”, sagte ich zu Rodin. [8] Man erkennt den Keim zu dem Gedicht “Buddha in der Glorie”. Auch der Marmor selbst spiegelt die Unendlichkeit des Kunstwerkes. Rodin bemüht sich, die Luft an die Oberfläche seiner Statuen heranzuziehen. “Der Marmor scheint nur der feste fruchtbare Kern zu sein, und sein letzter leisester Kontur schwingende Luft.” [9] Die Fülle der Gleichnisse, mit denen Rilke immer wieder die wesentlichen Strukturmomente des Kunstwerkes hervorhebt, machen den Charme dieses Buches aus. Als eine dichterische Verherrlichung der Kunst ist es von einmaliger Schönheit und Subtilität. Ob es darin gelingt, die Kunst Rodins im besonderen zu charakterisieren, muss dahingestellt bleiben. Zusammenfassend charakterisiert Rilke das Wesen des Kunstwerkes in seiner metaphysischen Bedeutung in der folgenden Briefstelle: “Das Ding ist bestimmt; das Kunstding muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.  So ist das eine stille und steigende Verwirklichung des Wunsches zu sein, der von allem in der Natur ausgeht.  Damit fällt der Irrtum, der die Kunst zu dem willkürlichsten und eitelsten Gewerbe machen wollte, aus; sie ist der demütigste Dienst und ganz getragen von Gesetz.” [10] Diese Zeitlosigkeit, die jedem Kunstwerk bis zu einem gewissen Grade eignet, indem alle Kunst etwas Fertiges hat, an dem nichts mehr geändert werden kann, erstreckt sich, wie schon gesagt, in der bildenden Kunst auch auf den Inhalt, und so konnte diese in besonderer Weise vorbildlich werden. Rilke sucht zu dieser Zeit die Unvergänglichkeit des Kunstwerkes in ihrer Unabhängigkeit von der Zeit und nicht in ihrer Überzeitlichkeit.

III.  Darstellung der skizzierten Entwicklung an einzelnen Gedichten

In einem Gedicht, das wohl in den ersten pariser Jahren entstand, wird die Dualität von irdischer Begrenztheit und alldurchdringender ewiger Einsamkeit im Geistigen an der Natur erfahren.

                             Abend
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfarbenes und eins, das fällt;

und lassen dich zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –

und lassen dir (unsäglich zu entwirren)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend
so dass es, bald begrenzt und bald begreifend,
                   abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Die kosmische Natur der großen Räume mit ihren Sternen und Sonnen wird Rilke während der nächsten Jahre in zunehmendem Maße zum Erlebnis. Der Stern wird mehrfach als symbolische Umschreibung für die innere Form verwendet. In der schweren künstlerischen Krise, die Rilke nach dem Abschluss des Malte Laurids Brigge durchmachte, wendet er sich schließlich von den Kunstgegenständen ab und sucht Form und Raum am gestirnten Nachthimmel zu erfahren. An der Natur wird ein tieferes und reiferes Gefühl möglich, als es der vom Menschen erschaffene Gegenstand zu erwecken vermochte.

Es bleibt nun noch übrig zu fragen, inwiefern das neue Formbewusstsein sich formal auf Rilkes Kunst auswirkte: Er wird auf das Medium seiner Kunst aufmerksam;  er lernt den Wert des Wortes kennen; und er beginnt Stilmittel wie Reim und Assonanz, Rhythmus und Wiederholung bewusst als Strukturmittel zu gebrauchen und nicht mehr nur als Gefühlserreger. Seine Sprache wird dichter. Es kommen keine Bilder mehr vor, die nur atmosphäre-schaffend sind.

Die eigentliche Gemeinsamkeit mit der bildenden Kunst zeigt sich aber darin, dass Rilke die Zeit als Strukturmittel, soweit dies in der Literatur auch nur möglich ist, aus seiner Dichtung ausschließt. Solche angestrebte wenn auch unvollkommene Zeitlosigkeit findet man schon in den frühen Dichtungen. In Die weiße Fürstin schien zwar alles in einer magischen Zeit vor sich zu gehen, aber die Entwicklung dieses dramatischen Gedichtes hing letzten Endes doch von einem Ereignis in der Zeit ab: Die Fürstin hat jahrelang auf das Kommen ihres Geliebten gewartet. Schließlich kommt er. Dass sie passiv bleibt und nicht aus dem Raum dieser magischen Zeit in die Aktivität der äußeren Welt ausbricht, ändert aber nichts daran, dass das Gedicht erst aus diesem Ereignis, das im Geist immer schon gegenwärtig war, seinen Sinn und die Möglichkeit der künstlerischen Form gewinnt. In der Lyrik war es leichter, Themen zu finden, die kein Nacheinander brauchten. Die Dinge existierten dort ihrem Wesen nach unabhängig von der Zeit. Aus Legenden ließ sich, zum Beispiel, ein Augenblick herausgreifen. Und wenn Rilke Szenen beschrieb, aus denen er die Bewegung völlig bannen wollte, brauchte er öfters den Kunsttrick, sie mit einem Bild zu vergleichen und so das Statische zu unterstreichen: “Angeordnet wie von einem Maler” oder “In Spiegelbildern wie von Fragonard”. Wo ein Ding, das in sich unbeweglich ist, beschrieben wird oder die Situation, wie in dem Gedicht “Der Panther”, in die Struktur des Dinges eingepasst wird, haben diese Gedichte eine geradezu monumentale Geschlossenheit der Form. Aber dort, wo die Zeit nicht aufgehoben wird, sondern in eine magische Zeit verwandelt, scheint der Inhalt oft über die Grenzen der Form hinauszufließen. “Die Flamingos” wäre ein Beispiel hierfür, auch “Das Karussell”, wo sogar mit Pünktchen auf die Offenheit der Form hingewiesen wird. Geschlossenheit oder Vollendetheit als Formprinzip findet man also nicht immer und unbedingt.

An dem Roman Malte Laurids Brigge wird sehr deutlich, dass Rilke bei Rodin nicht eine Geschlossenheit lernte, wie sie die Klassik kannte, als Entwicklung zu einem Endpunkt der Höhepunkt, Zusammenfassung und Lösung des Themas ist, sondern Rilke übernahm stattdessen von ihm die Zuständlichkeit des in der Skulptur Dargestellten als Formprinzip.  Der Roman ist kreisförmig um den Charakter des Malte angeordnet, der sich im Laufe des Romanes nicht entwickelt, oder besser, das Werk ist strahlenförmig um diesen ruhenden Mittelpunkt aufgebaut.  Rilke gibt sich die größtmögliche Mühe, im Leser alles Bewußtsein der Zeit zu zerstören. Er springt ohne erkärenden Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit, er fügt alle Arten von Motiven aus der Geschichte in den Roman ein, ohne sie irgendwie direkt auf eine verbindende Erzählung oder auf den Hauptcharakter zu beziehen. Das Vergangene ist Malte in der Erinnerung gegenwärtig und wird aus dieser Perspektive heraus dargestellt; die Probleme und Ängste der Kindheit kehren im Leben des Erwachsenen wieder, nur mit neuen Situationen verknüpft. Eine Zukunft ist dadurch unmöglich gemacht, dass Malte nicht handelt, sondern nur leidet, und sein geistiger Zustand sich zwar intensiviert aber nicht wesentlich ändert. Die Form der eingefügten Erzählungen ist fragmentarisch,  wie auch von der Lebensgeschichte Maltes nur kaum zusammenhängende Fragmente erzählt werden. Hierin unterscheidet Rilkes Roman sich grundsätzlich von, zum Beispiel, Goethes Wanderjahren.  Goethe wendete dort eine ähnliche Methode an, indem er die zeitlichen Zusammenhänge zurückstellt und mit eingefügten Erzählungen konzentrische Kreise um die Hauptmotive legt, aber bei Goethe ist jede Erzählung und auch die Romanhandlung selbst in sich abgerundet. Im klassischen Sinne ist dagegen die Form des Malte nicht geschlossen.

Neben dem Wesen der Form lernte Rilke auch manches über die Haltung des Künstlers und die Art, wie er zu schaffen habe am Beispiel des bildenden Künstlers. Das Schlüsselwort hier ist Sachlichkeit.

Schon im Wort ist die Entwicklung angedeutet, in der Rilke hier steht. Sachlichkeit ist eine Haltung gegenüber etwas, das unbestreitbar Tatsache ist. Die Sachlichkeit verwandelt das, mit dem sie sich beschäftigt, in eine Sache, in Seelenloses. Es ist die Haltung des Naturwissenschtlers, dem es nur auf Dinge ankommt, die mit Sinnen wahrgenommen werden können.  Während wenn es um Gerechtigkeit geht, nur das persönliche Interesse zurücktritt und die Bezogenheit auf den Menschen und eine transzendentale Wirklichkeit bleibt, tritt in der Sachlichkeit der transzendente Mensch mit seinen Ansprüchen überhaupt zurück.

In der Literatur waren es besonders die Naturalisten, die Sachlichkeit zu ihrem Schagwort machten. Der Schriftsteller kann durch sein Medium des Wortes, obgleich nur auf indirektem Wege, alle Sinneseindrücke übermitteln, aber darüber hinaus kann er auch Gedanken mitteilen. Beim Lesen von naturalistischen Romanen oder Dramen hat man dagegen nicht selten das Gefühl an den analytischen Stellen, einen volkswirtschaftlichen, psychoanalytischen oder politischen Bericht, bei den Beschreibungen, ein Inventar and bei den Gesprächen, eine Tonbandaufnahme zu hören; aber dadurch, dass uns der Gegenstand möglichst vollständig wiedergegeben wird, wirkt er oft fast so lebendig wie die Wirklichkeit, die uns täglich umgibt. Im Gegensatz zum Literaten kann der Maler nur Eindrücke für das Auge wiedergeben. Wenn er sich nicht bemüht durch die Wahl seines Stoffes, die Art seiner Behandlung dieses Stoffes oder seine Maltechnik einen Eindruck von Bewegung, Lebendigkeit und menschlichen Situationen, Gefühlen und Werten zu vermitteln, sondern nur das Gesehene wiedergeben will, dann kann es geschehen, dass die Gegenstände, die er darstellt, gar nicht mehr lebendig auf uns wirken. Nicht wählen und nicht deuten, sich ganz auf die Wiedergabe des Gegenstandes, den man als Stoff vor sich hat, beschränken, nichts dazudenken – alles dies führt in der Malerei leicht über eine Entseelung hinaus, bis zu einer Abtötung des Gegenstandes. Es ist also von Belang, dass sich Rilke seinen Begriff von Sachlichkeit hauptsächlich an der Malerei und nicht an der Literatur bildete. Man kann beobachten, wie er Schritt für Schritt den Weg, den die bildende Kunst genommen hat, nachgeht.  Im Florenzer Tagebuch lehnte Rilke die sehr humane und lebendige Kunst der Renaissance ab; sie sei eine Frühlingskunst, die nicht zur Reife kam. Dieselbe Auffassung von der italienischen Kunst ging in das Stundenbuch ein, und während Rilke dort Kunst überhaupt in Frage stellt, ist es besonders die Menschlichkeit der Renaissance, die ihn unvollkommen anmutet.

Ich habe viele Brüder in Sutanen
im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.
Ich weiß wie menschlich sie Madonnen planen,
und träume oft von jungen Tizianen,
durch die der Gott in Gluten geht.

Doch wie ich mich auch in mir selber neige:
Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe …

Bei den Worpsweder Landschaftsmalern begegnete ihm eine Kunst, aus der sich der Mensch zurückgezogen hatte. Jahrhunderte lang ist die Landschaft als Schauplatz des menschlichen Lebens, als Schmuck zur Verherrlichung religiöser Gestalten oder als Vorwand für Gefühle mißbraucht worden, schreibt Rilke in einem Aufsatz über die Landschaft, und die Landschaft kam nicht zu ihrem Recht. Die Worpsweder Maler seien die ersten gewesen, die das demütige Zurücktreten des Menschen und die Größe, Ferne und Teilnahmslosigkeit der Landschaft in ihrer Kunst darstellten. Sie betrachteten die Bäume und die Menschen, die auf den Ebenen standen,  als einzelne Gestalten gegen den Hintergrund des Himmels und der Ebene, als Dinge. Das Lebendig-Bewegte der Natur trat in ihren starren Landschaften ganz zurück.

Bei van Gogh und Cézanne, mit deren Kunst sich Rilke besonders in den Jahren 1906-1907 beschäftigte, wurde der Anspruch der Sachlichkeit verstärkt. Der Künstler hat alle “ererbten  Vorlieben und Vorurteile” und alle “vagen Gefühlserinnerungen” abzutun.  Zu diesen gehörte der Glaube, dass er nur schöne Gegenstände darstellen dürfe. Die Schönheit eines Kunstwerkes sei nämlich völlig unabhängig von der Schönheit des Modells. Der Künstler sei nicht da um äußere Schönheit zu schaffen: in der Kunst ist “sie ist immer etwas Hinzugekommenes”. Sie wird dadurch bestimmt, wie tief der Gegenstand erkannt worden ist und wie vollendet die Gestaltung des Erkannten ist. Das künstlerische Anschaun muss sich so weit überwinden “auch im Schrecklichen und scheinbar Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das mit allem anderen Seienden gilt”. “So wenig eine Auswahl zugelassen ist, so wenig ist eine Abwendung von irgendwelcher Existenz dem Schaffenden erlaubt.” [11] Es ist Rilke bedeutsam, dass Cézanne Baudelaires Gedicht “La Charogne” noch in seinem Alter ganz auswendig konnte, denn hier unterdrückt der Dichter allen Abscheu, den das Thema normalerweise erregen würde, und sieht ganz sachlich. Ein Gleichnis für solches Sehen wird Rilke Flauberts Erzählung von Saint Julien l’hospitalier, der sich zu dem Aussätzigen legte und alle eigene Wärme, “bis auf die Herzwärme der Liebesnächte” mit ihm teilte. Er erzählt die Geschichte im Malte Laurids Brigge. Malte versucht stets von Neuem dieses Äußerste an Selbstüberwindung zu leisten. Aber die Aufgabe ist zu schwer für ihn, und er wendet sich immer wieder vom gerade Erlebten ab. Er ist kein Armer im Sinne des dritten Stunden-Buches.

Cézanne geht noch einen Schritt weiter als van Gogh. “Malen bedeutet Farbenempfindungen registrieren und sie organisieren.” Der Maler kann nur das Sichbare darstellen und deshalb muss alles, “was im Sehen nicht nur gesehen, sondern sehend hinzugewußt, vorgestellt, mitgedacht oder mitempfunden wird”, als Vorurteil gelten. Über van Goghs Bilder schreibt Rilke in einem Brief: ”Von welcher Dürftigkeit sind auch bei ihm alle Gegenstände: die Äpfel sind alle Kochäpfel, die Weinflaschen gehören in ausgeweitete alte Rocktaschen … Bei Cézanne hört ihre [der Früchte] Essbarkeit auf, so sehr dinghaft wirklich werden sie, so einfach in ihrer eigensinnigen Vorhandenheit”. “Diese Art der Darstellung ist ganz entgegengesetzt der natürlichen, die sich aus der Vertrautheit mit den Dingen (die das bloße Sehen allein nie geben kann) nicht zurückzieht.…”
“Indem sie uns ganz auf die Erlebnisse des Auges beschränkt, verschließt sich die gesehene Welt vollkommen unserer Einfühlung”, schreibt Sedlmayr in seiner Studie Der Verlust der Mitte über die Kunst Cézannes. “Sie führt dazu, dass der Mensch im Gegensatz zur natürlichen Erfahrung mit den anderen Dingen auf eine Stufe kommt. Bald darauf wird bei Seurat der Mensch wie eine Holzpuppe, ein Mannequin oder Automat erscheinen, später wird bei Matisse seine Gestalt keine größere Bedeutung mehr haben als das Muster einer Tapete, bei den Kubisten wird er auf eine Stufe mit dem Konstruktionsmodell herabgesetzt werden.” [12]Wie sehr Rilke in dieser Richtung befangen war, wird später noch deutlich werden. Im “Buch von der Pilgerschaft” schreibt er in einem Gedicht über die russischen Heiligen, die sich in die Erde eingruben und dort in einer Welt ohne Licht und ohne Zeit, so wie sie sich der Dichter des ersten Stundenbuchs ersehnte, “wie ein fensterloses Haus” lebten. Er fragt am Ende zweifelnd:

Sind die, die sich Verstorbenen vergleichen,
am ähnlichsten der Unvergänglichkeit?
Ist das das große Leben deiner Leichen,
das überdauern soll den Tod der Zeit?

Immer wieder rückt sein Menschbild nah an diese Grenze der Erstarrung: In der Beschreibung der Armen im dritten Stunden-Buch, in der Schilderung der Worpsweder Menschen, in der immer wiederkehrenden Gestalt des Blinden, in der unerhörten Vereinfachung der Typen in dem Gedichtkreis “Die Stimmen”, in der Gestalt des Fahrenden – eine Figur, die von einem Picasso-Bild, also auch von der bildenden Kunst entlehnt ist – und in dem Symbol der Puppe als begegnendem Du.

Aber obwohl Rilke scheinbar die Kunstauffassung der Naturalisten und der Aestheten teilte, war er sein ganzes Leben lang in der Kunst ein Idealist, dem es immer auf die höhere Bestimmung des Menschen ankam. Naturalisten und Aestheten befriedigten zwar ihre Neugier und die ihrer Leser, oder ihr Formgefühl und das ihrer Leser, aber das Geschilderte bedeutete ihnen nichts. Es erregte höchstens rein sinnliche, körperliche Reaktionen in ihnen, wie zum Beispiel Ekel. Auch diese sollten überkommen werden. Es ist schwer, in einer derartigen Kunst irgendeinen Sinn zu sehen. Sie konnte höchstens Informationen geben, die eventuell zu einem dieser Kunst fremden Zweck zu verwerten wären. Psychologische Analyse konnte eine rein sachliche Menschenkenntnis fördern, eine Beschreibung von miserablen Zuständen, unter denen die Armen ihr Leben dahinfristeten, konnte vielleicht soziale Besserung bewirken, Kunst im eigentlichen Sinne konnte hier nur aus Versehen vorkommen; in der Theorie war dafür nicht vorgesehen. Das Resultat ist der Erkenntnisekel des Künstlers, von dem Tonio Kröger berichtet. Bei Rilke gründet diese Einstellung der Sachlichkeit jedoch auf dem Glauben, dass jedes Ding, sei es was es wolle, in der Selbstgenügsamkeit seiner Form das absolute Sein spiegelt, und somit beispielhaft auf das Ideal, das dem Menschen vorschweben muss, hindeutet. Nicht das Wirkliche, sondern das Wahre will seine Kunst darstellen. Trotzdem gibt es bei Rilke Verirrungen, und einige seiner Neuen Gedichte sind offenbar nur aesthetisches Spiel.

Rilke lernte an der bildenden Kunst genau zu beobachten. Bis dahin hatte er sich oft in seinen Bildern auf herkömmliche Assoziationen verlassen, die nur dazu dienten, Atmosphäre zu schaffen. Die folgenden sehr musikalischen Verse aus dem Stundenbuch sind ein Beispiel dafür:

Es tauchten tausend Theologen
in deines Namens alte Nacht.
Jungfrauen sind zu die erwacht,
und Jünglinge in Silber zogen
und schimmerten in dir, du Schlacht.

In deinen langen Bogengängen
begegneten die Dichter sich
und waren Könige von Klängen
und mild und tief und meisterlich.

Die Bilder sind hier nur als Schmuck über den Gedanken, der zugrundeliegt, gelegt. Dem Anspruch nach ist dieser zwar ein bedeutender: Es geht um den Versuch, das Göttliche zu erkennen.  Der Bogen dieses Gedanken kann vom Überdruss des alten Faust bis zur Mystik einer Therese von Jesu reichen. Es ist auch vage die Rede von Jünglingen, die vermutlich in eine Glaubensschlacht ziehen. Aber wie sehr ungemäß diesem Kampf ist es,  wenn das gefährliche Ringen mit der ziellosen, nur auf der Oberfläche zitternden Bewegung des “Schimmerns” beschrieben wird.  Der “Jüngling in Silber” gehört in eine neo-romantische, besser prä-raphaelitische Bilderwelt, die ans belanglos Kitschige grenzt.  Rilke begreift das selbst und schildert seine Kunst beschönigend aber dennoch zutreffend:

Wir holen aus den alten Farbenschalen
Die gleichen Striche und die gleichen Strahlen,
Mit denen Dich der Heilige verschwieg.

Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;
so dass schon tausend Mauern um dich stehn.
Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre Herzen offen sehn.

Unter dem Einfluß von Rodin, Cézanne und van Gogh beginnt Rilke nun , sich der Eigenart der Dinge, die ihn umgeben, bis ins Detail bewußt zu werden. Um das genaue Sehen zu lernen, verbringt er oft Stunden und Tage vor demselben Gegenstand, ganz wie ein Maler oder Bildhauer vor einem Modell. Erst mit dem objektiven Schauen erwirbt er sich die Welt des Visuellen für seine Dichtung.


III Darstellung der kizzierten Entwicklung an einzelnen Gedichten

Wendet man sich nun einzelnen der Gedichte dieser Zeit zu, dann wird die oben skizzierte Entwicklung deutlicher werden.  Das erste Gedicht, das aus dem Rodin Erlebnis hervorging und eines der perfektesten ist, das Rilke je geschaffen hat, ist “Der Panther”. Hier wird dem Dichter die Form zum Erlebnis.

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz der Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Kontur legt sich hier um Kontur. Zuäußerst sind die Stäbe des Käfigs, die den Panther aus der weiten freien Welt herausgelöst haben und in der kleinen eigenen Welt eingeschlossen. Innerhalb dieser Stäbe kreist der Panther um eine unsichtbare Mitte, die Kontur der Stäbe ständig nachziehend. Und sein Auge fügt sich diesem Kreisen,  erkennt die Grenze der Stäbe an und baut durch seine Blindheit die letzte Mauer, die das Tier ganz in sich selbst einschließt. Zu allen diesen Kreisen wird nun die Mitte gesucht.  Aber der Panther fühlt sich nicht als Mitte.  Er durchbricht das Gitter nicht mit seinem Blick sondern widerholt es nur immer wieder mit seinem Gang. Dieser Gang müsste gewollte Handlung sein, aber sein Wille ist betäubt. So ist das Tun des Tieres ziellos und sinnlos. Und wenn sich der Blick nun doch noch einmal belebt und ein Bild in sich aufnimmt, so findet auch dies keine Mitte mehr und vergeht im Herzen, das es nicht halten kann, weil es verlernt hat zu fühlen und das Äußere in Inneres zu verwandeln. Statt der beherrschenden Mitte gibt es nur noch das Nichts.

Dies ist das erste Gedicht, in dem Rilke wie ein Bildhauer vor der Natur arbeitet.  Er ging damals wiederholt in den Jardin des Plantes, um den Panther zu beobachten.  Wie meisterhaft ist dann zuletzt der Streich, mit dem er die Isolierung des Modells vollzieht, eine Isolierung, die dem Bildhauer selbstverständlich ist, für den Dichter aber nicht.  Dadurch, dass er hier nicht pedantisch, wie zum Beispiel in “Die Gazelle”, wo er alle Bewegung arretiert, die Arbeitsweise des bildenden Künstlers nachahmt, gelingt es ihm sie für sich sinnvoll zu machen.

Das Panther-Gedicht ist ganz aus der Beobachtung eines bestimmten Tieres in einer bestimmten Situation hervorgegangen, und es greift in seiner Darstellung nirgends darüber hinaus. Aber als lebendiges Symbol steht das Bild im Knotenpunkt von Rilkes Denken zu dieser Zeit. Es steht in Beziehung zu Rilkes Suche nach menschlicher Bedeutung in den leblosen Dingen. Auf das Menschliche übertragen geht es um das Problem der Isoliertheit, welche zur Abtötung führen kann, aber auf der anderen Seite auch zur wahren Einsamkeit des ganz großen Menschen.

Das Motiv des Gefangenseins wird in dem Gedicht “Der Gefangene” wieder aufgegriffen. Wie der Panther, stellt auch dieser sich ganz negativ zu seiner Isolierung ein.

Meine Hand hat nur noch eine
Gebärde mit der sie verscheucht;

Wie der Panther seinen Blick vom Vorübergehn der Stäbe lähmen lässt, so erlaubt auch der Gefangene seinem Herzen, mit den Tropfen Schritt zu halten und mit ihnen zu vergehn. Auch dieses Herz hat verlernt, eine geistige, gefühlsmäßige, seelische Mitte zu sein; es kann die Eindrücke nicht mehr verwandeln, sondern ist nur noch ihr Echo oder ihr Spiegel. Gott wird vom Gefangenen nicht mehr im Herzen gesucht, nicht mehr im Geistigen und Unendlichen, sondern im bloß Äußeren, als das, was die Ummauerung völlig undurchdringlich macht, als das Auge des Wächters, das das letzte Loch ausstopft: die vollendete Grenze. Das was er einmal innerlich erlebt hatte, die Erinnerungen, veräußerlichen sich auch. Sie gelangen in rasende, irre Bewegung, die schließlich in sinnloses und seelenloses Gelächter ausbricht. Die Zeitlosigkeit, die im Geistigen zum höchsten Sein der Vollendung werden kann, steht hier ganz unter dem Zeichen des körperlichen Verfaulens.

Und was jetzt in dir morgen heißt und: das
und : späterhin und nächstes Jahr und weiter –
das würde wund in dir und voller Eiter
und schwäre nur und bräche nicht mehr an.

Dieser Mensch ist nur noch Gefangener, nicht mehr ein transzendentes Wesen. Seine Verdinglichung und Vertotung wird bis ins letzte Detail beschrieben. Es ist hier eine Entwicklung zu Ende geführt, die schon in der Vorstellung der Nicht-Reichen das Stunden-Buches angelegt war und die Malte in seinen Begegnungen mit den Armen von Paris immer wieder wie ein Alpdruck überfällt.

Es ist interessant, die beiden Gedichte, die “Der Gefangene” überschrieben sind, mit dem vermutlich sechs Jahre früher entstandenen Gedicht aus dem Buch der Bilder, “Die Blinde”, zu vergleichen. Hier erzählt ein junges Mädchen von ihrer Erblindung.  Wie der Gefangene bei seiner Einkerkerung, erlebt auch die Blinde den Verlust der Welt, die durch ein undurchdringliches Dunkel ersetzt wird. Das Erblinden war für sie wie ein Tod.

Die damals sah, die laut und schauend lebte,
die starb.
……….
                                                     Die Welt
die in den Dingen blüht und reift,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir) ….

Auch hier kommt der Vergleich des Wundseins vor, “Am ganzen Leibe war ich wund”, aber es wird in einem ganz anderen Licht dargestellt, eher als eine Sensitivität, die sie überempfänglich für die Regungen ihrer Umwelt macht. Die Blinde fühlt, wie der Gefangene, dass sich die Weite der Welt, die sie sonst umgab, nun plötzlich in erdrückende Enge gewandelt hat.

Der Raum ist eingefallen. Nimm den Raum
mir vom Gesicht und von der Brust.

Auch die Menschen sind ihr durch dies Erlebnis entfremdet. In der ersten Zeit ihres Blindseins sucht sie verzweifelt die alte Welt wiederzugewinnen; sie fleht um Licht, um Tag, um die Dinge der Welt, um den Kontakt zu anderen Menschen. Schließlich beruhigt sie sich und nimmt ihre Einsamkeit und ihre Weltlosigkeit hin. Sie ist nun so ganz in sich selbst beschlossen, dass niemand mehr zu ihr finden kann.

Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. –
Ich bin eine Insel.

Der Fremde:
Und ich bin über das Meer gekommen.

Die Blinde:
Wie? Auf die Insel? … Hergekommen?
…….
Ich bin eine Insel und allein.
Ich bin reich. –

Auch der Blinden scheint erst alles aus dem Herzen fortzugehn – alle Gefühle, das was sie ist – aber schließlich wuchs ihr der Weg zu den Augen zu.

Jetzt geht alles in mir umher,
sicher und sorglos; wie Genesende
gehn die Gefühle, genießend das Gehn,
durch meines Leibes dunkles Haus.

Dieser blinde Mensch hat seine Grenze anerkannt und sie innerlich überwunden. Rilke deutet das in diesem Zusammenhang als die Überwindung des Todes, und die letzten Zeilen des Gedichtes scheinen die Blinde schon in einer jenseitigen Welt des Seins zu sehen. Zumindest einen Teil ihres Todes hat sie schon überwunden, den Tod der Augen. Das, was sie jetzt noch wahrnimmt, wird nicht mehr als Gegenüber erlebt; sie ist frei von Welt, frei von der Zeit, innerlich unabhängig von
anderen Menschen , ihr Handeln ist ohne jedes Ziel, ohne Neugier auf Sachen, die die Menschen betreffen. Sie ist der positive Gefangene. Dies wird sehr deutlich, wenn man die eben zitierte Strophe mit einer aus dem anderen Gedicht vergleicht.

Und das was war, das wäre irre und
raste in dir herum, den lieben Mund,
der niemals lachte, schäumend von Gelächter.

Ein ähnlicher Übergang vom Leben durch das Sterben hindurch ins Sein wird in “Der Schwan” symbolisch geschildert.  Das Leben ist Mühsal, Unvollendetheit, Ungeschaffenheit, weil es immer noch von der Zukunft abhängt und deshalb immer noch etwas zu tun bleibt. Im Sterben wird der Grund, auf dem das Tun und Handeln stattfindet, preisgegeben. Es ist ein “ängstliches Sich-Niederlassen”, wie auch das Erblinden etwas Schreckliches war, aber es leitet über zur Freiheit und zum vollen Besitz seiner selbst. In dem schönen Bild der Spur im Wasser, die “wie vergangen” hinter dem Schwan auf dem Spiegel des Sees liegt, wird jene Gleichzeitigkeit, in der Vergangenheit und Zukunft sinnlos geworden sind, angedeutet:

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlich still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.

In “Der Blinde” wird das ideale Empfangen geschildert, das das Äußerliche schon gleich wie etwas Inneres mit dem Gefühl aufnimmt, nicht als Welt, die gegenübersteht und zum Handeln zwingt, sondern in kleinen Wellen. Auch wo er menschliche Hilfe nötig hat, nimmt der Blinde die führende Hand des anderen nicht als totes Werkzeug an, das ihm zu einem Ziel zweckdienlich ist, denn er kennt solche Ziele, die außerhalb seiner selbst stehen, nicht mehr, sondern er vollzieht die Verbindung mit seinem ganzen Wesen, wie ein Mensch sich dem anderen darbringt und ihn ganz entgegennimmt, wenn er mit ihm die Vermählung eingeht. Auch im Malte wird der völlig gesetzmäßige Wandel des Blinden als etwas Positives dargestellt.

In diesem Zusammenhang muss man “die Frucht des Todes”, die jeder in sich reifen soll, verstehen, von der im letzten Stunden-Buch immer wieder die Rede ist. Der Mensch, der den “großen Tod” in sich trägt, hat in gewisser Weise das Sterben schon hinter sich, wie der Blinde. Sein Wesen hat schon teil and dem idealen Zustand, der uns im Tode erwartet, wo weder Zeit noch Welt in Betracht kommen. Es ist im Grunde die Fähigkeit, das Leben als einen langen erfüllten Augenblick hinzunehmen, als etwas Selbstgenügsames, Harmonisches, das in sich vollendet ist. Nur wenn Welt und Schicksal auf solch eine zeitlose Mitte hin gelebt werden, haben sie bleibenden Wert. Im “Buch von der Armut und vom Tode” ist der Tod die innere geistige Mitte, und die Armut die symbolische Umschreibung der äußeren Grenze, der Isoliertheit, Besitzlosigkeit, im tiefsten Sinne Weltlosigkeit. Genauer, ist Armut die Beschreibung der Gesinnung des Menschen, der diese Grenze anerkannt hat und damit auch die Möglichkeit, den Tod in sich reifen zu lassen. In der Beschreibung der Armut werden deshalb vielfach dieselben Bilder verwendet, die auch als Motive in den Neuen Gedichten  vorkommen oder in dem Stimmenzyklus aus dem Buch der Bilder. Der Todgebärer, von dem hier die Rede ist, ist arm wie ein Stein, wie ein fortgeworfener Leprose, wie ein Bettler, wie ein Wunsch, wenn Sträflinge ihn hegen in einer Zelle ewig ohne Welt. Und was ist gegen diesen “tiefsten Mittellosen”, den “leisen Heimatlosen”, “das lange stille Traurigsein von Tieren, die man als Eingefangene vergaß?”

Im Stunden-Buch, bis hinein in den Malte, spielt jedoch die Vorstellung der Armut eine wichtigere Rolle, als die des “großen Todes” der, wenn er auch offensichtlich die positive und transzendentale Seite der Armut sein soll – um einen von Rilke beliebten Ausdruck zu gebrauchen, der “Ausguß” der Hohlform der Armut – doch immer eine etwas nebelhafte Konzeption bleibt, die sich schwer auf eine wirklich Situation beziehen läßt. Der Akzent liegt bei Rilke zu dieser Zeit ganz auf der Grenze und den verschiedenen Möglichkeiten, die der Mensch hat, sie entweder positiv oder negativ zu werten. Die Todesvorstellung ist vorläufig ein noch unausgenutztes Potenzial, das erst in einer späteren Schaffensperiode Rilkes, mit dem Komplex, der sich um die mythische Gestalt des Engels bildet, voll ausgewertet werden kann. Dort wird dann das Ideal des Dinges, genauer des Kunstdinges, durch den Engel ersetzt. Dies Schwenken von äußerer zu innerer Gestalt machen auch die symbolischen Menschengestalten mit. Der Bettler, der Blinde und der Arbeiter, alle von ihrer Grenze aus gedachte Gestalten,  machen in steigendem Maße solchen auch schon im Frühwerk angelegten Figuren wie dem Liebenden, dem Helden der eine absolute Mission erfüllt, dem Frühverstorbenen und dem Sänger platz.

Der dritte Kreis des Panther-Gedichtes, das ziellose Kreisen um eine betäubte Mitte, wird von dem in alle Anthologien aufgenommenen Gedicht “Das Karussell” noch einmal zum Thema gemacht:

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.

In “Karussell” sind in dieser kreisenden Bewegung die verschiedensten Tiere und Kinder befangen. Die bunten Pferde mit Mut in den Mienen, ein Böser roter Löwe, ein Hirsch ganz wie im Wald, und immer dann und wann ein weißer Elephant. Aus allen Erdteilen kommen diese Tiere, die seltsam inkongruent zu einander passen. Der Ausdruck, den sie in ihrer erstarrten Haltung tragen, ist nur Gebärde, kein Gefühl, und ist in dieser Umgebung sinnlos, wie denn auch die Kinder, die diesen Tieren von ungefähr als Reiter gegeben sind, keine Rücksicht darauf nehmen:

mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber –

Es gibt hier keinen Zusammenhang. Alles ist in der ewigen Monotonie eines ziellosen Treibens begriffen. Und trotzdem schenken die Kinder manchesmal “diesem atemlosen, blinden Spiel”, atemlos sowohl in seiner Leblosigkeit und Seelenlosigkeit, wie in seiner rastlosen Eile, ein Lächeln, “ein seliges, das blendet und verschwendet” heißt es im Gedicht. Dieses Lächeln gilt keinem Lebensinhalt. Aber vielleicht kann es gerade deshalb so losgelöst vom Irdischen und so selig sein. Das Kind auf dem Karussell ist ganz für sich, in einem ewigen Einerlei befangen, und da bei Rilke Einsamkeit und Zeitlosigkeit die Bedingungen für das höchste Sein sind, obwohl sie auch in sich die Gefahr der Erstarrung tragen, ist gerade unter diesen Umständen auch das unbedingte Lächeln möglich. Und es gelingt gerade dem Kind, diesem Wesen, das noch nicht, wie der Erwachsene, in allem nach Zukunft und Vergangenheit fragt, sondern die Fähigkeit besitzt, ganz dem Augenblick hingegeben zu leben.  Das Streben, ausschließlich in der Gegenwart zu leben, erinnert an das Gegenwartsideal der Klassik. Dass Spiel und Kunst bei Rilke eng zusammengehören, wird noch an späterer Stelle deutlich werden.

Wenn man “Das Karussell” liest, wird man unwillkürlich an die fünfte der Duineser Elegien erinnert, wo von den Fahrenden die Rede ist. Auch dort findet man sinnloses, seelenloses Tun und vollkommen beherrschte Form ohne Gehalt. Die Zirkusleute scheinen ein Spielzeug zu sein, aber wessen Spielzeug? Wer sind sie überhaupt, diese Menschen “die dringend von früh an wringt ein wem, wem zu Liebe niemals zufriedener Wille”. Einst hatte zwar ihr Tun noch Sinn zu einer Zeit, wo es ein Teil kultischer Handlungen war. Da waren sie, wie der Dichter sagt, das Spielzeug eines Leides, das noch klein war. Aber heute? In dieser Situation, die nun zwar im Vergleich mit dem Karussell-Gedicht ungeheuer vertieft ist - vertieft durch körperlichen Schmerz und unerwiderte Liebe - ist es wieder einzig und allein das Kind, das so von Vergangenheit und Zukunft absehen kann, das sich selbst so sicher besitzt, dass es unbeirrt von dem Schicksal, in dem es befangen ist, dennoch in einem Augenblick so rein und erfüllt fühlen kann, dass es jenes Lächeln zustandebringt,  das des Engels würdig ist. Aber für alle die, die ihre Kindheit schon hinter sich haben, bleibt eine derartige Existenz schwer erreichbar. Kann ein Mensch, der sich einmal der Zeit bewusst geworden ist, dieses Bewußtsein je wieder ganz verlieren? Zur Zeit der Dinggedichte scheint Rilke noch etwas Derartiges zu hoffen. Später weiß er, daß es nur in seltenen, begnadeten Augenblicken möglich ist.

Noch ein letztes Gedicht, in dem es vor allem auf die Kreisform ankommt, sei hier erwähnt. Es ist “Die spanische Tänzerin”, eines von zwei Gedichten, in denen Rilke versucht, das reine Kunstwerk im Bild des Tanzes zu beschreiben.  Von dem zweiten, einem der Sonette an Orpheus, wird später noch gehandelt werden. In dem erwähnten Gedicht werden die zwei Momente des Kunstwerkes, von denen schon die Rede war, veranschaulicht: die Form und der innere Sinn oder Gehalt.
Die Form bleibt sich gleich, immer vollkommen und ganz geschlossen, ein beharrliches Kreisen. Dies ist hier jedoch alles andere als Monotonie; aus dem Kreisen wächst als Kern die Flamme des Gehalts, die sich mit der Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens zu einem leuchtenden Höhepunkt entwickelt, bis sie allmählig herabbrennt und die Künstlerin sie schließlich selbst mit großer Bestimmtheit austritt und löscht. Mit virtuoser Genauigkeit hat Rilke die Bewegungen des Tanzes diesem Bilde angepasst.

Wie in der Hand ein Schwefelzündholz, weiß,
eh es zur Flamme kommt, nach allen Seiten
zuckende Zungen streckt -: beginnt im Kreis
naher Beschauer hastig, hell und heiß
ihr runder Tanz sich zuckend auszubreiten.

Und plötzlich ist er Flamme, ganz und gar.

Mit einem Blick entzündet sie ihr Haar
und dreht auf einmal mit gewagter Kunst
ihr ganzes Kleid in diese Feuersbrunst,
aus welcher sich, wie Schlangen die erschrecken,
die nackten Arme wach und klappernd strecken.

Und dann: als würde ihr das Feuer knapp,
nimmt sie es ganz zusamm und wirft es ab
sehr herrisch, mit hochmütiger Gebärde
und schaut: da liegt es rasend auf der Erde
und flammt noch immer und ergiebt sich nicht -.

Doch sieghaft, sicher und mit einem süßen
grüßenden Lächeln hebt sie ihr Gesicht
und stampft es aus mit kleinen festen Füßen.

Auch dieses Gedicht spricht von Vergänglichkeit, aber wichtig ist nur die Geformtheit, Natürlichkeit und Beherrschtheit des Kunstwerkes, hier in der Gestalt des Tanzes. 


b) Ausdeutung des Kunstwerks auf den Menschen hin

In den Gedichten, die bis jezt behandelt worden sind, hatte Rilke im allgemeinen die Situation des Menschen zur Form vereinfacht. Das Gegenstück dazu bildet eine Gruppe von Gedichten, in denen umgekehrt vom Kunstwerk auf das Menschentum gedeutet wird. Vornehmlich die Apoll-Gedichte, die jeweils die beiden Sammlungen der Neuen Gedichte eröffnen, gehören hierzu. Apoll ist das Sinnbild jener Kunst, die Rilke zu dieser Zeit anstrebte, nach Nietzsches Bezeichnung eine Apollinische Kunst, ganz Gestalt, Klarheit, Gegenwart. Später in der Sammlung, die am ehesten als Gegenstück zu the Neuen Gedichten gelten kann, in den Sonetten an Orpheus, huldigt er dann dem dionysischen Gott des Gesanges. Im ersten dieser Gedichte, “Früher Apoll”, wird die schmucklose, fast kahle Einfachheit einer jener frühen griechischen Plastiken beschrieben, in denen die Vision des Künstlers noch unerhört viel stärker ist, als seine Möglichkeiten, ihr Ausdruck zu geben.  Die Form ist starr, wie die noch unbelaubten Bäume im Vorfrühling, aber die Idee, die Sonne, ist schon eine Frühlingssonne, und das ungemilderte Licht trifft das Auge fast tödlich.  Wie in der Plastik dieses Bildhauers eine erhabene Vision ungenügenden Ausdruck findet, so ist auch der Sonnengott als Dichter hier noch vor allem Anfang gesehen. Er hat noch nichts geschaffen, sein Blick ist noch leer von Welt, es ist kein Schatten in seinem Schaun, und der Lorbeer, der nur dem zuteil wird, der auch sein Handwerk beherrscht, und dessen Vorbedingungen das Wirken innerhalb der Welt und der Einfluss auf andere Menschen ist, ruht noch nicht auf seiner Schläfe. Dieser Apollo ist noch ganz kosmische Gewalt, nicht irdische Schönheit. Sein Dasein gleicht dem des Kindes, das sich der Welt noch nicht bewusst ist, oder auch dem des Gottes, der über aller Welt steht. Das Lächeln, Zeichen der seligen Selbstgenügsamkeit, ist ihm eigen, aber noch nicht das Singen, in dem der bewußte Mensch auf einen Augenblick das Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umwelt, die Vereinigung von Subjekt und Objekt, erlebt. Die Gestalt des Sängers wurde Rilke erst später bedeutsam. Zu diesem Zeitpunkt war ihm der Dichter noch Diener der Dinge, die erst später in seinen Dienst trete würden. Vorläufig bedeutetet ihm Schaffen vor allem Weltwerdung des Geistes; später wurde es Geistwerdung der Welt.  Klar kommt dies in den abschließenden Versen im Gedicht “Die Spitze” zum Ausdruck:

Ein Leben ward vielleicht verschmäht, wer weiß?
Ein Glück war da und wurde hingegeben,
und endlich wurde doch, um jeden Preis,
dies Ding daraus, nicht leichter als das Leben
und doch vollendet und so schön, als sei’s
nicht mehr zu früh, zu lächeln und zu schweben.

In dem zweiten Apollo-Gedicht, “Archaischer Torso Apollos” ist diese gewissen Unreife und Unfertigkeit, die die letzte Einheit von Wesen und Ausdruck noch nicht erreicht hatte, überwunden.

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
Darin die Augenäpfel reiften.

Man denkt bei diesen Zeilen an das frühere Gedicht, in dem es hieß, dass der niegebrauchte Mund das Singen noch nicht gelernt habe, das sich das Schauen noch nicht zur Blüte entfaltet habe, noch nicht gereift war, um dem Munde die Möglichkeit des Ausdrucks zu geben. Für Rilke war die Erfahrung, die Paris bracht, vor allem die, dass Kunst nicht ohne Können möglich sei, dass aber Können auf einer genauen Kenntnis der Dinge dieser Welt beruhe.  Wie der frühe Apollo vor allem Anfang stand, in der ersten Naivität des Kindes oder des Jünglings, so hat dieser Apollo, wenn man so sagen darf, die zweite Naivität erreicht.  Das Aufnehmen und Aussprechen der Welt kommt für ihn nicht mehr in Frage.  Es hätte zu einer früheren Zeit gehört, in der sein Bild noch ganz dem lebenden Menschen glich.  Nun ist nur noch die Mitte des Menschtums, um die sich einst die handelnden Glieder gesammelt hatten, erhalten, nur noch das Unweltliche, das Wesentliche. Rilke schreibt an einer Stelle in seiner Rodin-Arbeit, dass in diesem Zeitalter, das so laut und unecht geworden sei, das wahre Menschtum nicht mehr in den Gesichtern, sondern in den vor der äußeren Welt verhüllten Leibern zum Ausdruck käme. Das sei die Tragik unseres Jahrhunderts, dass sie im handelnden Menschen keine Wahrheit mehr findet. In diesem Apoll hat sich das Schauen, das einst die Welt suchte, nach innen gewendet. Man könnte von einem “angestrengten Schauen in die eigene Tiefe” sprechen. Es existiert hier eine Einigkeit mit sich selbst,  die Rilke später gerne mit dem Symbol des Narziss veranschaulichte, und die auch den Engeln zugeschrieben wird, wenn es von ihnen heißt, dass sie Spiegel sind “die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.” Die Selbstgenügsamkeit des Kunstwerks ist nicht Stillstand, sondern das Wechselspiel von Hineinnehmen und Ausstrahlen, in dem die Strömungen sich das Gleichgewicht halten. Das befriedigte Lächeln geht zu der Mitte hin, die die Zeugung trug, es bezieht sich auf das besitznehmende, befruchtende Prinzip im Menschen. Die Plastik nimmt Besitz von der Luft, vom Licht, vom Raum: sie flimmert und das Licht, das sie fängt, bricht von ihr aus, wie ein Stern. Wie Rilke an anderer Stelle schreibt, dass jedes Kunstwerk der Mittelpunkt der Welt sei, ein neuer Mittelpunkt, um den die Welt sich neu ordnen muss, so wird es hier etwas, in dessen Licht dem Betrachtenden alles neu und anders erscheinen muss. Das Gedicht endet mit den Worten: “du musst dein Leben ändern”.
In den beiden Apollo-Gedichten kommt das Erlebnis zum Ausdrduck, das später im Engel zur mythischen Gestalt wurde. Auch hier fühlt Rilke bereits, dass das Schöne “nichts als des Schrecklichen Anfang” ist. Es ist fast tödlich.

so ist in seinem Haupte
nichts was verhindern könnte, dass der Glanz
aller Gedichte uns fast tödlich träfe –

heißt es im Gedicht vom frühen Apollo, und die zweite Elegie beginnt mit den Worten:

Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir,
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele,
wissend um euch.

Fast tödlich ist das Erlebnis der Schönheit, weil es an das Mysterium einer Vollkommenheit anrührt, die im irdischen Leben einfach undenkbar und unmöglich ist. Das Leben des Menschen, das in allem Sein und Wirken solche Vollkommenheit als höchstes Ziel vor Augen haben muss, ist der Tragik unterworfen, dass es wie die Motte, die vom Licht angezogen wird, verbrennen muss, wenn es schon im Irdischen seinem Ziel zu nahe kommt. Um diese Achse bewegt sich Rilkes Lebenskampf.  Es ist zu beachten, dass Rilke diese beiden Gedichte an den Anfang seiner beiden Sammlungen gestellt hat.  Die Kunst dieser Jahre steht im Zeichen der Apollo-Gestalt, als Kunstwerk, als Mensch und als Gott, so wie die Elegien im Zeichen des Engels stehen.  Die Schönheit des Kunstwerkes als symbolhafte Andeutung eines Absoluten ist jedoch um vieles erträglicher, als das Absolute, schlechthin Unmögliche, das der Engel verkörpert. Das erstere ist noch etwas, das das Leben beeinflussen kann; das zweite ist rettungslos zerstörend.  In den Neuen Gedichten wird das Ideal der Kunst eigentlich noch nicht direkt auf den Menschen bezogen.  Dazu musste es erst von dem spezifischen Feld der Kunst abstrahiert werden. Das Menschenbild wird dort noch von der Grenze her bestimmt.

Dieser Schritt der Loslösung des Wertes vom Gegenstand geschieht im letzten Gedicht der zweiten Sammlung, Der Neuen Gedichte Anderer Teil. “Buddha in der Glorie” handelt von der Apotheose der Kunst. Hiermit beginnt für Rilke eine neue Schaffensepoche.

Mitte aller Mitten, Kern der Kerne,
Mandel, die sich einschließt und versüßt, -
dieses alles bis an alle Sterne
ist dein Fruchtfleisch: Sei gegrüßt.

Sieh, du fühlst, wie nichts mehr an dir hängt;
im Unendlichen ist deine Schale,
und dort steht der starke Saft und drängt.
Und von Außen hilft ihm ein Gestrahle,

denn ganz oben werden deine Sonnen
voll und glühend umgedreht.
Doch von dir ist schon begonnen,
was die Sonnen übersteht.


c)  Übernahme weiterer Elemente aus der bildenden Kunst

Es ist bis jetzt von Form und Mitte, oder Idee, des Kunstdinges, wie Rilke sie als Urphänomen erlebte, gesprochen worden. Rilke  ging jedoch noch weiter und versuchte auch andere Elemente der bildenden Kunst für seine Konzeption der Dichtung fruchtbar zu machen.  Zu diesen gehören Kompositiion, Linie und Farbe.  Komposition und Linie können als eine Erweiterung des Formgedankens betrachtet werden. Die Bedeutung der Farbe ist problematischer. In Bezug auf Rilkes Verdichtung solcher Mittel der bildenden Kunst hat man manchmal das Gefühl, dass er im Banne einer fremden Kunst stehe.

Die Komposition ist das Thema der beiden Gedichte “Die Gruppe” und “Der Balkon”. In der künstlerischen Komposition werden verschiedene, sonst einzelne Teile auf eine innige und sinnvolle Weise miteinander verbunden. Da Rilke den Menschen als wesentlich isoliert und einsam in der Welt sah,  konnte ihm der Formaspekt der Komposition nicht eigentlich für das Wesen des Menschen aufschlussreich werden. Er konnte höchstens ein bedeutungsvolles Nebeneinander von grundsätzlich Verschiedenem gelten lassen.  So sieht er in Rodins Gruppe Die Bürger von Calais vor allem die Einsamkeit der Gestalten, die ein zufälliges Geschick zu diesem gemeinsamen Weg gesammelt hat. Das, was die Menschen zusammenbringt, ist immer der Zufall; zusammengehalten werden sie sonst durch nichts. Den Zufall rechnet Rilke zu dem fahrenden Zirkusvolk.  Sein Tun ist reine Artistik.

Als pflückte einer rasch zu einem Strauß:
ordnet der Zufall hastig die Gesichter,
lockert sie auf und drückt sie wieder dichter,
ergreift zwei ferne, läßt ein nahes aus, …

und so weiter, sinnlos, ziellos, ohne Dauer.  Rilke hat nie im Schicksal eine höhere Fügung erkannt, sondern immer nur den Zufall. In einem der Briefe aus Muzot heißt es: “Ich nenne Schicksal alle äußeren Ereignisse (Krankheiten zum Beispiel einbegriffen),  die unvermeidlich eintreten können, eine Geistesdisposition und Erziehung, einsam durch ihre Natur, zu unterbrechen und zu vernichten.” [13]“Der Balkon” schildert eine Gruppe von fünf Menschen, die “wie von einem Maler” angeordnet zu sein scheinen. Rilke beschreibt die Einzelnen, zuerst die beiden Schwestern, dann den Bruder, die Greisin und das Kind, als eine fortschreitende Steigerung des Motivs der Einsamkeit. Die Schwestern sind aneinandergelehnt. Sie berühren sich noch mit den Körpern, aber ihre Seelen sind einsam, und ihr Sehnen nacheinander ist ohne Aussicht auf Erfüllung. Sie lehnen an einander, “Einsamkeit an Einsamkeit”. Der Bruder kennt dieses Streben über sich hinaus zum anderen Menschen schon nicht mehr. Er ist “zugeschlossen”, aber seine Selbstbegrenzung ist poitiv,  denn wie der Held der sechsten Elegie, kennt er seine Sendung, er ist “voll Geschick”. Nur in der Ähnlichkeit mit der Mutter bekundet sich noch eine Beziehung zu den anderen: die Blutsverwandtschaft, die ihn an seine Ahnen bindet. Die Greisin ist längst mit keinem mehr verwandt. Während der Bruder nur schweigend und zugeschlossen war, aber noch nicht weltabgewandt, ist sie unzugänglich. Ihr Gesicht ist eine hohle, leblose Maske, das wie ein Ding fallen würde, wenn die Hand es nicht aufhielte. Sie ist die abgelebte Hülle, ohne Geschick und ohne Sein. Nach ihr kommt dann noch das Kinderangesicht:

das das Letzte ist, versucht, verblichen,
von den Stäben wieder durchgestrichen,
wie noch unbestimmbar, wie noch nicht.

Es hat sich noch gar nicht als Individualität begriffen, und hat deshalb weder geistige Gestalt, wie etwa der Bruder, noch körperliche wie die Greisin; es hat sich noch nie nach anderen Menschen gesehnt. Es ist das Kind, bevor die Menschen es gezwungen haben, “dass es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offene….” nach den Worten der achten Elegie. Es ist allein, ohne zu wissen, was Einsamkeit ist.

Eine Linie zu zeichnen, rein um ihrer selbst willen, scheint das Gedicht “Die Anfahrt”. Erst kommt eine Kurve, die der Weg vorschreibt, die die Wendung des Wagens nachzieht, den Blick wiederholt und deren Rundung sich auch noch in den barocken Engelfiguren zu halten scheint. Dann führt der Weg gerade durch den Schloßpark hindurch, bis er vor dem Tor abermals zu einer Schwenkung gezwungen wird, nach der der Wagen steht. Aus der Glastür des Schlosses zum Wagen herab gleiten als doppelte Linie der Lichtreflex und der Windhund, die, indem sie der ersten Linie entgegenkommen, diese abschließen. Schwenkung, Fahrt durch den Park, wieder Schwenkung, freier Blick, der dann aber durch die Bäume gehemmt wird, um kurz vor dem Tor doch wieder frei zu werden, ist der symmetrisch dreiteilige Rhythmus der ersten Linie.  Sie wird von der Bewegung der Augen –annehmen, halten, und wieder lassen – aufgenommen, und dann andeutungsweise in dem Blick erst über den Friedhof in die Erinnerung und Vergangenheit und dann nach dem Weg durch den Park, der nichts als Gegenwärtiges zuläßt, zur Erwartung der Ankunft. Im letzten Teil des Abschlusses und der Erfüllung stehen sich Tor und Tür gegenüber, und durch sie hindurch vollzieht sich Bewegung und Gegenbewegung. Rilke genießt hier Gleichmaß und Symmetrie aber ohne ihnen eine psychologische oder metaphysische Bedeutung beizumessen. Das Gedicht ist nicht mehr als ein aesthetisches Spiel. In “Der Ball”, wird dann die einfache Linie des Steigens und Fallens gezeichnet, das aktive Streben des Geistes in den Raum hinaus und das passive Angezogensein des Körpers von der Erde, beides, der Wille und die Dinghaftigkeit in der runden Form des Balles enthalten. Hier hat die Linie wieder eine sinnvolle Funktion and das Gedicht symbolischen und nicht nur aesthetischen Charakter.

Es müssen hier noch kurz einige Gedichte erwähnt werden, in denen Rillke von der Farbe ausgeht. Eines der schönsten ist “Rosa Hortensie”:

Wer nahm das Rosa an? Wer wusste auch,
dass es sich sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich sanft, wie im Gebrauch.

Dass sie für solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?

Oder vielleicht auch geben sie es preis,
damit es nie erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem Rosa hat ein Grün
gehorcht, das jetzt verwelkt und alles weiß.

In dieser Blume, die sich noch bevor sie verwelkt, entfärbt, steigert sich auf kurze Zeit die Farbe zu einer unerhörten Intensität. Es ist ihr Augenblick der Vollkommenheit, der reinen Erfüllung, in dem sie über ihr irdisches und vergängliches Dasein hinaus der ewigen Welt des Engels würdig ist. Wie auch der Mensch seine seligen Augenblicke überdauert, macht das Rosa der Blume einem Grün platz, an dem sich dann der naturgemäße Ablauf des langsamen Sterbens vollzieht. Anders als andere Blumen, bei denen die schönste Blüte ein notwendiger Teil der organischen Entwicklung ist, übertrifft die Farbintensität, zu der sich eine seltene Hortensie steigert, alle Erwartungen.

In der “Landschaft” versucht Rilke die Farbe als das ordnende, erlösende und beruhigende Prinzip, als das, was die willkürliche Wirklichkeit zu einer künstlerischen Vollkommenheit verwndelt, darzustellen. Man liest dieses Gedicht am besten als eine Stimmungsbeschreibung. Im Grunde eignet sich das Motiv besser für einen Maler als für einen Dichter.

Dass Rilke zu dieser Zeit seine Umwelt oft ganz mit den Augen des Malers sah, wird an den folgenden Beispielen deutlich:

An der Ecke des einen der schwarzen Einschnitte, die von der Via Roma …. abzweigen, sah ich gestern den Verkaufsstand eines Zitronenwasserhändlers. Pfosten, Dach und Hintergrund seiner kleinen Bude waren blau (von dem bewegten, nach Grün zu sich abstumpfenden Blau gewisser türkischer und persischer Amulette); es war Abend, und die der Rückwand gegenüber angebrachten Lampen bewirkten, dass alles andere sehr entschlossen vor diese Farbe hingestellt war; und zwar: das von einem Wasserüberzug ständig überglittene Erdbraun der Tonkrüge; das Gelb einzelner Zitronen und schließlich das glatte, verglaste, immer wieder umgewandelte Rot in mehreren großen und kleinen Goldfischgläsern. Das war ja stark, zu deutlich möglicherweise, aber doch immerhin bemerkenswert. Van Gogh wäre dazu zurückgekehrt. – Vielleicht sehe ich das alles weil ich seine Briefe gelesen habe. [14]

Ein Motiv dieser Art ist jedoch für die Dichtung untauglich.

d) Begründung und Charakterisierung der Dinglyrik

Rilke ist nicht er erste Dichter, der Dinggedichte geschrieben hat. 1819 entstand die berühmte Ode von Keats “Ode on a Grecian Urn” und fünfundzwanzig Jahre später Mörikes Gedicht “Auf eine Lampe”. Die Gedichte sind sich ähnlich. Keats beschreibt das Bild auf der Urne. Es stellt eine idyllische Szene dar: blumige Täler in einer anmutigen Landschaft – ist es das schöne Tal Tempe, oder sind es die Traumgefilde Arkadiens? – Liebende in der vollen Schönheit ihrer Jugend , glühend von noch ungestillter Leidenschft, ein Priester, der das geschmückte Opfer zum Altar führt. Schönheit, Liebe, Andacht vereinen sich auf diesem Bild, und der Künstler hat sie alle in dem Augenblick der Vollkommenheit festgehalten, bevor das Alter, die Wollust und die blutige Opferhandlung eingesetzt haben. Das Neue an diesem Gedicht ist, dass die idyllische Situation nicht in ein Paradies verlegt ist, wie etwa bei Dante, auch nicht in einer naturnahen Vergangenheit gesucht wird, wie bei Rousseau, sondern im Kunstwerk. Keats verfällt nicht in den romantischen Irrtum, das goldene Zeitalter in der Vergangenheit zu suchen, er erhofft es auch nicht von der Zukunft, sondern sucht es in der reinen Gegenwart. Goethe in Italien mochte hoffen, dass sich Schönheit und Harmonie im gegenwärtigen Leben finden ließen. Noch im Helena-Akt des Faust, über dem bereits das Gefühl der Scheinhaftigkeit und einer nur künstlerischen Realität schwebt, liegt die Betonung auf dem Leben, der lebendigen und erlebten Kunst. Goethe drückt hier die Einsicht aus, dass das Idyllische eine künstlerisch gesteigerte Wirklichkeit sei. Aber die Fantasie des Künstlers erfährt im Lebendigen das Idyllische, und die Betonung liegt noch nicht, wie bei Keats, auf dem Werk. Schönheit ist noch wesentlich etwas, das dem Leben und nicht der Kunst eignet, so wie auch bei Schiller künstlerische Schönheit nicht von der Form her bestimmt ist, sondern vom anmutigen, schönen Menschen her, in dem die Kräfte sich in einem spielenden Gleichgewicht verhalten.

Keats, jedoch, sieht die Schönheit nicht mehr als Lebenshaltung, sondern als Augenblick im Fluss der Zeit, den der Zufall beschert und den der Künstler im Werk festzuhalten vermag. In einem solchen Augenblick steht die Zeit still.  Auch Mörike verherrlicht die absolute Ruhe des Kunstwerks. Nur ganz zart angedeutet ist hier die sehnsüchtige Ahnung, dass ein harmonisches Leben doch möglich ist oder war, in der Kinderzeit mit seinen fröhlichen Spielen, oder in der Epoche des Rokoko mit seiner Festlichkeit , aus der die Lampe stammt. Der immergrüne Efeukranz verbindet sie andeutungsweise mit der Feier des Bacchus. Aber im Grunde sieht auch Mörike die Schönheit im Kunstwerk.

Wie reizend alles! Lachend, und ein sanfter Geist
des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Im achtzehnten Jahrhundert fanden der neue Naturkult und die Würdigung des Natürlich-Lebendigen im Menschen ihren ersten Ausdruck  in der Schäferidylle, die einen Zustand schilderte, in dem Natur und Mensch friedlich beisammen waren, auf eine Art, die in der Wirklichkeit nicht möglich ist. Das Paradies wurde vom Himmel auf die Erde verlegt, in die Natur, die damit heiliggesprochen wurde. Eine neue Religiosität schuf sich erst einmal den festen Grund eines sinnbildlichen Ausdrucks, um von da aus zu einer unmittelbaren Naturfrömmigkeit zu gelangen. In Deutschland war dieses der Pantheismus Goethes und Herders, der mit dem Glauben, dass der Mikrokosmos des Menschen gleichgeartet sei, wie der Makrokosmos der Natur, die Sturm und Drang Lyrik Goethes möglich machte, die sich aus der innerlichen Gemeinsamkeit von Mensch und Natur nährt.

Die Keats “Ode auf eine griechische Urne” und die Dinglyrik Rilkes scheinen in mancher Hinsicht in einem ähnlichen Verhältnis zu einander zu stehen, wie Schäferlyrik und Naturdichtung. Man muss hier freilich sehr acht geben, dass man die Parallele nicht zu weit führt. Während der Schäfer- und Naturkult und später die pantheistische Naturfrömmigkeit bei allen Schichten der westeuropäischen Völker Anklang fanden, ist hier von einigen wenigen Gedichten die Rede. Aber das Gedicht von Keats scheint trotzdem Ausdruck einer sehr allgemeinen kulturellen Entwicklung zu sein, und der Kreuzpunkt von zwei Hauptströmungen, die auch bei Rilke zusammenlaufen. Die erste dieser Strömungen ist das wachsende Interesse für das Kunstwerk, und die sehr viel höhere Einschätzung der Kunst, die schon zu Zeiten der Klassik begann, und dann auch des Kunstgewerbes in den Wiener Werkstätten und der Bauhaus-Bewegung . Man findet sie auch bei den Philosophen Schopenhauer und Nietzsche und sie macht sich in der allgemeinen Entwicklung der künstlerischen Wissenschaften bemerkbar. Die zweite zeitgeschichtliche Ströming ist ein Lebensgefühl, das sich schon im Barock anbahnte und bei den Impressionisten mit neuer Stärke ausbrach, welches nur noch im einmaligen Augenblick einen absoluten Wert erkannte. Keats schildert in seinem Gedicht die Idylle des Augenblicks, im Gegensatz zur Idylle des ewigen Lebens im Paradies und der des natürlichen Lebens auf der Erde, und er stellt sie mittels der Statik des Kunstwerkes, genauer noch des Kunstdinges, also in der Dauer des einmal Geschaffenen dar. In beiden Gedichten ist das beschriebene Ding ein Sinnbild, insofern als die Dichter in ihm sehnsuchtsvoll eine Möglichkeit ahnen, die sie jedoch nicht unmittelbar miterleben. Beide Gedichte haben die Form eine Anrede; es besteht also ein nostalgischer Abstand zwischen Dichter und Gegenstand.

Ich habe am Anfang dieses Kapitels beschrieben, wie Rilke im Kunstding, was auch immer es darstellen mochte, eine direkte Beziehung zum metaphysischen Wesen des Menschen erkannte. Der Mensch und das Ding waren ihrer Struktur nach gleich, und so konnte eines Sinnbild des anderen werden. Aber dadurch, dass diese Parallelität bestand, war auch die Möglichkeit eine gefühlsmäßigen Verschmelzung beider gegeben, so wie für Goethe der pantheistische Gedanke eine gefühlsmäßige Verschmelzung mit der Natur ermöglichte und dann später auch den Grund für seine naturwissenschaftlichen Studien bot. Rilke erwarb sich so die Möglichkeit, das auszuführen, was er Gott im ersten Stunden-Buch gelobt hatte:

Ich will die Dinge so wie keiner lieben,
bis sie dir alle würdig sind und weit …

Es kommt eine neue Lyrik zustande, anders als die, die aus der Liebe zu einem anderen Menschen hervorging und anders als die, welche eine Naturliebe zum Impuls hatte. Es ist eine Dinglyrik.

Ich gebrauche das Wort lyrisch hier in einem engen Sinn, um die rein gefühlsmäßige Erfassung des Gegenstandes zu bezeichnen, die Staiger als Erinnerung oder Verinnerung charakteristiert. Während man in einem weiten Sinne eigentlich alle die Gedichte Rilkes, eingeschlossen die Duineser Elegien, die Staiger nach Art der Erfassung ihres Gegenstandes wohl eher Pathetisch-dramatisch nennen würde, in die Gattung der Lyrik einklassieren muss, möchte ich das Wort hier allein für die Gefühlseinheit zwischen Dichter und Gegenstand anwenden und beschreibende, verehrende und kontemplative Elemente ausschlißen. Bei weiten nicht alle der Neuen Gedichte sind in diesem Sinne lyrisch.  Es kommt hier auf die besondere Stimmung an, die die Verschmelzung mit dem als Ding erfassten Gegenschaft schafft. Zur Dinglyrik in diesem Sinne rechne ich nicht nur Gedichte wie “Die Treppe der Orangerie”, die wirkliche Dinge beschreiben, sondern alle in denen die ruhende, vollendete Form im Gegenstand beschrieben wird, so dass “Der Panther”, “Die Insel”, “Das Karussell”, “Römische Fontäne” und “Buddha in der Glorie” alle als Dinggedichte gelten müssten. Unter diesen Gedichten ist vielelicht “Römische Fontäne” die reinste Lyrik und lässt am stärksten die besondere Stimmung spüren, an der auch die anderen Gedichte mehr oder minder teilhaben.

Vielleicht war hier eine besonders innige Erfassung des Gegenstandes dadurch möglich gemacht, dass Rilke einen Gegenstand vor sich hatte, der nicht erst arrangiert und gedeutet werden musste, sondern in sich schon vollendete Form war. Darüber hinaus hatte Rilke immer schon die Brunnen und Fontänen der Parks besonders geliebt. Ihr Wasserspiel als zarteste und flüchtigste aller Bewegungen ist ein Lieblingsmotiv der frühen impressionistisch empfundenen Lieder, wie auch ihr traumhaftes Rauschen, das längst vergangene Märchen zu erzählen scheint. Im Buch der Bilder versucht Rilke eine erste Deutung der Fontäne, ganz aus dem Gefühl heraus. Ihre Struktur und die Gesetzmäßigkeit ihrer Bewegung wird hier noch nicht erkannt.

Aus unendlichen Sehnsüchten steigen
endliche Taten wie schwache Fontänen,
die sich zeitig und zitternd neigen.
Aber, die sich uns sonst verschweigen,
unsere fröhlichen Kräfte – zeigen
sich in diesen tanzenden Tränen.

Er hatte die Fontäne also schon mit dem Gefühl erfasst, bevor er sie als Ding sehen lernte. Aber erst als Ding ist sie nicht mehr nur Gleichnis, sondern Gegenstand in ihrem eigenen Recht.

Römische Fontäne
Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

Ein Gefühl von ungestörtem Gleichgewicht und vollendeter Ruhe liegt über diesem Gedicht. Zwei Becken steigen aus dem einen Marmorrand. Dieser selbst ist alt, ist Ursprung, aus dem sich die einzelnen Schalen erheben, er ist runde, vollendete Form, ungebrochene Fläche: Spiegel.  Er besitzt die Heiterkeit des Lächelns. Über diesem Rand spielt das Wasser der beiden anderen Becken. Das obere neigt sich dem wartenden zweiten zu. Beide wollen sie Vereinigung; das obere vollzieht aktiv die Bewegung, das untere, schon näher dem ruhenden letzten Spiegel, harrt passiv, dem leise redenden schweigend begegnend, auch hier auf das andere bezogen.  Das zweite Becken kennt die Rede nicht mehr, sondern nur noch das Bild. Als mittleres Becken verwaltet es das Geheimnis der Zwienatur der Welt, die zwischen Himmel und Erde, zwischen Licht und Dunkel liegt. Nach dem Himmel hin waren die Becken gestiegen, zur Erde zurück fällt das Wasser. Aber mächtig ist der Zug hinunter zur ruhenden Erde, und dem fallenden Wasser erscheint der Himmel wie ein “unbekannter Gegenstand”.  Vereinigt in der mittleren Schale, kennen die Wasser kein Heimweh mehr, nicht die Sehnsucht nach oben und nicht die nach unten. Hier ist alles ruhige Gegenwart. Zwar gibt es immer noch Bewegung, aber sie geht in die Breite und verliert auch nicht auf einen Augenblick die vollendete Gestalt: Kreis formt sich aus Kreis. Die letzte Ruhe besitzt die mittlere Schale jedoch noch nicht, und wenn sie auch von keiner Sehnsucht weiß, so kennt sie doch den Traum eines noch tieferen Friedens. Mit einer Bewegung, die kein Fallen mehr ist, denn im Fallen kann noch Wille und Sehnsucht liegen, gleitet das Wasser an den Moosbehängen hinab zum letzten Spiegel. Dieser kennt kein Bild mehr; er weiß nichts von dem doppelten Wesen der Welt und deshalb gibt es für ihn nichts Äußeres, sondern nur noch das Lächeln, das dem Herzen angehört. Auch Bewegung ist hier nicht mehr Form, sondern sachte Verwandlung in Inneres, Vergeistigung, letzter Übergang zur Ruhe, welcher Seligkeit ist.

Durch das ganze Gedicht hindurch bleibt die Form gleich vollkommen: in der Symmetrie der Bewegung, der Vereinigung von Gegensätzen, der Geschlossenheit des Kreises, und zuletzt im Übergang zu ganz Innerem, welches von keiner Zwiespältigkeit mehr weiß. Hinter alledem schwebt jedoch das Mysterium des Lebens, das die Form immer wieder scheinbar durchbricht, um sie aufs Neue zu schließen, denn Leben ist nur in der Bewegung.

Dieses Gefühl einerseits von harmonischem Gleichmaß, andererseits von Mysterium, verwandelt sich im Wortklang und Rhythmus zu Musik. Der breite, ruhige sehnsuchtslose ei-Laut herrscht vor. Er durchzieht das ganze Gedicht im Reim und beherrscht in den ersten drei Strophen einzelne der Zeilen:
Zwei Becken, eins das andere übersteigend …
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand …
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis, …

Am stärksten wirkt er in der letztzitierten Zeile, in der die Bewegug sich zur Form geschlossen hat und reine Gegenwart geworden ist. Durchweg schaffen die häufigen Nasallaute einen weichen Ton; in Kombination mit den dunklen u-Lauten – runden, Dunkel, unten – vertieft sich das Sinnend-Verweilen zum Geheimnis. Dagegen vertreten die offenen a-Laute wieder den Anspruch des einfachen Daseins. In den ersten beiden Strophen, in denen die Form der Symmetrie gestaltet wird, stehen die hellen e- und ei-Laute und die dunklen a-, o- und u-Laute in starkem Kontrast zueinander; auch die Reimpaare kontrastieren, indem ein beweglicher weiblicher Reim mit einem ruhenden männlichen Reim abwechselt. Sogar ganze Klangfolgen wiederholen sich:

aus einem alten runden Marmorrand …
zum Wasser, welches unten wartend stand …

In den letzten beiden Strophen besteht keine Symmetrie dieser Art mehr. Die dunklen und hellen Töne verbinden sich immer häufiger in Umlauten, die jetzt auch in den Reim aufgenommen sind. Die Reime wechseln nicht mehr gleichmäßig. Es kommt ein einmaliger Ruhepunkt auf “Schale” Das Wort findet keine Antwort im Reim. Dann machen die harten Verschußlaute der ersten Verse weichen Konsonanten platz, und die Bewegung fließt ohne Aufenthalt sachte weiter, bis sie im letzten Reim ausklingt. Die ruhende Form kennt weder Zeit noch Ziel, und so gibt es in diesem Gedicht nur Partizipien mit Ausnahme des Verbums “stand”, das ohne Bewegung ist. Auch der Rhythmus ruht: Das Gedicht bewegt sich von Anfang bis Ende im gleichen Tempo, und auch der Tonfall bleibt sich gleich. Fast müsste es monoton wirken, wenn die Sprache nicht in der Farbe des Klanges so subtil variiert wäre.

Eine Stimmung von Harmonie, Gleichmaß und Ruhe waltet über diesem Gedicht und über der Dinglyrik Rilkes überhaupt.  Die Harmonie ist hier mit strenger Konsequenz in Form und Inhalt durchgezeichnet. Die Stilmittel sind in allen Gedichten ähnlich gehalten, und der Rhythmus bleibt sich gleich. Aber auch in den frühen Gedichten fand sich schon allgemein dieser einheitliche Rhythmus, von einem oft mehrmals wiederholten Reim unterstützt. Bei der großen Musikalität der Sprache gemahnten diese Gedichte oft an Wiegenlieder. In den Neuen Gedichten hat aber die strengere Form das Träumerische gebannt. Doch ist in den frühen Naturgedichten und Liebeliedern Rilkes die Stimmung der, der Dinggedichte schon sehr ähnlich. Von Anfang an ist das Lebendige Rilkes Gefühl fern.

Dichterisch hat die Lyrik der Neuen Gedichte ihre Gefahren. Alle Sprache ist ihrer Natur nach unfähig, ein Ruhendes darzustellen. Ein Satz ohne tuendes Verbum ist ein verstümmelter Satz. Und will der Dichter den Worten ihren natürlich-lebendigen, zielstrebigen Rhythmus nehmen, dann wird die Sprache monoton, und alle Monotonie ist letzten Endes langweilig. Rilke selbst scheint dies begriffen zu haben. Er hat sein Lebensgefühl später nie mehr lyrisch, sondern nur noch pathetisch zum Ausdruck gebracht. Er hat nicht mehr versucht, mystisch, wie im Stunden-Buch, oder lyrisch, wie in den Dinggedichten, den idealen Zustand des ruhenden Seins vorauszuerleben, sondern sich als ein Suchender auf dem Wege zu diesem überzeitlichen Ziel erkannt. Er dichtete von nun ab aus dem Abstand zu seinem Gegenstande, aber auf diese Weise konnte ihm die Sprache lebendig bleiben. Dadurch, dass sich Rillke nunmehr als wandernder, suchender Mensch sah, wurde es ihm möglich, die gefährliche Nähe zur bildenden Kunst zu überwinden und mit ganzem Herzen  Dichter zu sein.




D      Der Weg vom Ding als metaphysischem Schema (Mitte,
         Grenze) zur Gestalt des Engels

I   Notwendigkeit einer Selbstbegrenzung mit ihren Gefahren und deren Überwindung.
           

In den Jahren zwischen der ersten Begegnung mit Rodin und dem Abschluß des Romans Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge  hatte sich Rilkes Lebensgefühl hauptsächlich an der Form und der Grenze orientiert. Rilke war von Kind an, teils durch Veranlagung, teils durch schicksalhafte Fügungen, ein kontaktloser Mensch und als solcher ein wahrer Sohn seiner Zeit. Er scheint weder seinem Vater noch seiner Mutter noch irgendeinem seiner Schulkameraden nahegestanden zu haben. Die Liebe zu seiner Frau, Clara Westhoff, war nicht solcher Art, dass sie ihn nötigte, mit ihr zusammenzuleben. Offenbar war seiner Kunst das gemeinschaftliche Leben nicht eine Quelle der Inspiration, sondern eine Störung. Jeder Künstler braucht Einsamkeit um schaffen zu können; aber Rilke scheint darüber hinaus die Einsamkeit um ihrer selbst willen gesucht zu haben. Auch die Verbindung mit den vielen Freunden, die sich mit der Zeit zu ihm bekannten, die er als Menschen zu verstehen und zu bewundern sich bemühte und deren Verständnis und Bewunderung er auch seinerseits zu brauchen schien – dies war besonders bei Lou Andreas-Salome der Fall – wurde fast ausschließlich mit Briefen aufrechterhalten.  Während er seine sehr umfangreiche Korrespondenz gerne zu erledigen schien und die briefliche Verbindung, die er als Künstler weitgehend zu prägen vermochte, eigentlich immer befriedigend für ihn war,  schien er ein Treffen oft zu vermeiden, und wenn es dann stattgefunden hatte, davon enttäuscht zu sein. In den Begegnungen, die ihm fruchtbar und wertvoll waren, erkannte er, nach den Beschreibungen in Briefen zu urteilen, meistens in dem Begegnenden ehrfurchtsvoll einen Leidensgenossen an. Er schien eher “den Menschen” als eine bestimmte Person in denen, deren Bekanntschaft er machte, zu suchen. Seine Beschreibung seiner Begegnung mit der Duse ist hierfür ein typisches Beispiel.

Die Duse, dass ich bei ihr war, sie bei mir, auch das ist wie eine Spiegelung in der von Klarheit überreizten Luft – können Sie sich vorstellen, wir waren wie zwei, die in einem alten Mystere zur Handlung kommen, sprachen, wie im Austrag einer Legende, jeder sein sachtes Teil. Ein Sinn kam unmittelbar aus dem Ganzen und ging sofort über uns hinaus. Wir waren wie zwei Schalen und bildeten übereinander eine Fontäne und zeigten einander nur, wieviel uns fortwährend entging. Und doch wars kaum zu verhüten, dass wir uns irgendwie über die Herrlichkeit verständigten, so voll zu sein, und vielleicht dachten wir auch im selben Augenblick an den lebendigen, senkrechten Strahl, der über uns stieg und fiel (immer nach) und uns so sehr füllte.[15]

Für Menschen, die auf diese Weise einsam sind, die die Möglichkeit, sich im begegnenden Anderen bestätigt zu sehen, von sich weisen, ist fast immer das Hauptproblem die Frage danach, wer sie sind, wo der Kern ihres Wesens liegt. Sie haben nicht mehr das Gefühl eine Persönlichkeit zu sein, denn ein Charakter bildet sich “in dem Strom der Zeit” wie es in Goethes Tasso heißt. Es ist das Phänomen, das Sedlmayr den “Verlust der Mitte” nennt: den “Verlust der Ganzheit der Persönlichkeit, ‘des Herzens’ im Pascalschen Sinn, und der synthtischen Kraft des Bewusstseins”. [16]So ertönt schon im ersten Stunden-Buch die Klage eines jungen Bruders:

Ich verrinne, ich verrinne
wie  Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am emisten mitten im Herzen.

Hier löst sich der Mensch in Sehnsucht auf. Im Großstadtbetrieb wird der Mensch “zerstreut”. Als Künstler fühlt sich Rilke von der Masse der Bilder und Eindrücke, die auf ihn eindringen, überwältigt.  Er vergleicht sich mit einem hin- und hergewendeten Spiegel, aus dem alle Bilder fallen, und an anderer Stelle mit einer Anemone “die sich nicht mehr schließen konnte zur Nacht, und immer weiter aufnehmen mußte in den wie rasend geöffneten Kelch, mit der viel zu vielen Nacht über sich.” Derartige Erfahrungen nötigten Rilke zu einer sehr bewußten Selbstbestimmung, die unter dem Einfluß Rodins und der bildenden Kunst die Form der Selbstbegrenzung annahm. Er versuchte seine Existenz von seinem Beruf aus festzulegen, dem Beruf des schaffenden, bildenden Künstlers. Er erlaubte sich nicht, die Welt anders als im Sinne dieser Berufungen zu verstehen. Das was er nicht künstlerisch verwerten konnte, schloß er möglichst aus seinem Gesichtskreis aus, denn alles was nicht direkt in Kunst verarbeitet werden konnte, musste ihn ablenken und zerstreuen. In der Arbeit, meint Rilke zu dieser Zeit, eignet sich der Künstler die Welt an und gestaltet das, was unverarbeitet dem freien Geist des Menschen ein beengendes Gefängnis sein müsste, um, so dass es stattdessen wie eine feste Burg wird, in der er sicher und ungefährdet leben kann. Indem sich der Künstler die Welt geistig zueignet dadurch, dass er in allem, was ihn umgibt, das Kunstwerk erkennt und aus sich und den Dingen eine neue Welt schafft, von der er nun nichts mehr zu befürchten hat, in der er je größer und umfassender sie wird, desto sicherer leben kann, schafft er seinem Geiste den Weltleib, der diesen so vollkommen hält, dass Zeit und Vergänglichkeit ihm nichts mehr anhaben können. Alle Kunst ist Bewältigung und Verewigung, Eroberung der Welt durch die Arbeit.

a) Der Künstler als Arbeiter und Seher

Darin, dass Rodin, wie auch Cézanne und van Gogh Arbeiter waren und im Leben nichts als die Arbeit mehr kannten, sah Rilke ihre menschliche Größe. “Sein Leben geht, wie ein einziger Arbeitstag” schreibt Rilke über Rodin. “Dieser Schaffende lebt so sehr unter seinen Dingen, ganz in der Tiefe seines Werkes, dass er Offenbarungen gar nicht anders erfahren kann als mit den schlichten Muitteln seiner Kunst. Neues Leben heißt für ihn letzten Sinnes nur: neue Oberflächen, neue Gebärden. So ist es einfach um ihn geworden, er kann nicht mehr irren. Mit dieser Entwicklung hat Rodin allen Künsten ein Zeichen gegeben in dieser rastlosen Zeit. Man wird einmal erkennen, was diesen großen Künstler so groß gemacht hat: dass er ein Arbeiter war, der nichts ersehnte, als ganz mit allen seinen Kräften in das niedrige und harte Dasein seines Werkzeuges einzugehen. Darin lag eine Art von Verzicht auf das Leben; aber gerade mit dieser Geduld gewann er es: denn zu seinem Werkzeug kam die Welt.”[17]

b) Schwerpunktsverlagerung vom Kunstwerk zum Schaffensakt des Künstlers

Da in der Skulptur stets viel Zeit auf die handwerkliche Ausarbeitung der Konzeption verwendet werden muss, kommt es dort wirklich in höherem Grade als bei anderen Künsten auf ein Arbeiten an.  Aber insofern der Bildhauer Arbeiter ist, ist er eher Handwerker als Künstler. Für den Künstler, den denkenden und empfindenden Menschen überhaupt, kann das Leben nie auf die Art einfach werden, die Rilke hier beschreibt. Der echte Künstler muss, während er schafft, in der Ahnung des Unmöglichen, Unerträglichen leben, und wenn er versucht, sich dieser Qual und dieser Gefahr zu entziehen, hört er auf, Künstler zu sein.  Rilke hat dies auch im Grunde immer gewusst. Jedes Kunstwerk muss des “fast tödlichen” Engels würdig sein. Es muss im Mittelpunkt der Welt stehen und, um es dort hinstellen zu können, muss der Künstler beim Schaffen diese ganze Welt miterleben.  Der Weg der schöpferischen Gestaltung ist nicht ruhig-heitere fleißige Arbeit, sondern ein Weg voller Gefahr. Rilke vollendete 1925 eine Variante zu dem Gedicht “Der Reliquienschrein”, das im zweiten Teil der Neuen Gedichte erschienen war. Das frühere Gedicht stellt das Schaffen des Künstlers als ruhige Arbeit dar. Bevor das Werk nicht vollendet ist, ahnt der Goldschmied noch nichts von seiner Göttlichkeit; aber als der Schrein fertig vor ihm steht, fällt er anbetend auf die Knie,

Seine Seele niederschlagend
Vor dem ruhigen Rubin,
Der ihn zu gewahren schien
Und ihn, plötzlich um sein Dasein fragend,
Ansah wie aus Dynastien.

Für den Goldschmied des späten Gedichts ist das Schaffen ein Wecken von Dämonen, die ihn zu überwältigen drohen. Er versucht, sie zu bannen, sie in der geschlossenen Form auf immer unschädlich zu machen, aber noch bevor ihm dies gelingen kann, fallen sie über ihn her. Es ist die alte Geschichte des Zauberlehrlings, der die Geister rief, ohne die magische Formel zu wissen, mit der man sie wieder bannt.

Warte! Langsam! Droh ich jedem Ringe
und vertroste jedes Kettenglied:
Später, draußen, kommt das, was geschieht.
Dinge, sag ich, Dinge, Dinge, Dinge!
wenn ich schmiede, vor dem Schmied
hat noch keines irgendwas zu sein
oder ein Geschick auf sich zu laden.
Hier sind alle gleich, von Gottes Gnaden:
ich, das Gold, das Feuer und der Stein.

Ruhig, ruhig, ruf nicht so Rubin!
Diese Perle leidet, und es fluten
Wassertiefen im Aquamarin.
Dieser Umgang mit euch Ausgeruhten
ist ein Schrecken: alle wacht ihr auf!
Wollt ihr Bläue blitzen? Wollt ihr bluten?
Ungeheuer funkelt mir der Hauf.

Und das Gold, es scheint mit mir verständigt;
in der Flamme hab ich es gebändigt,
aber reizen muss ichs um den Stein.
Und auf einmal, um den Stein zu fassen,
schlägt das Raubding mit metallenem Hassen
seine Krallen in mich selber ein.

Die Kunst hat ihrem Wesen nach an zwei Welten teil, der des Geistes und Gefühls und der der Erscheinungen. Da sie erst in der Verschmelzung dieser beiden Welten entsteht, kann man diese unmöglich im Werke getrennt betrachten. Aber in der Konzeption des Künstlers kann entweder der abstrakte Gedanke erst da sein, - er muss sich dann in der gegenständlichen Welt einen Körper suchen – oder umgekehrt, kann der konkrete Gegenstand den Künstler ansprechen, Empfindungen in ihm wachrufen oder ihn zur Meditation anregen. Schiller hat diese beiden Möglichkeiten in seinem Aufsatz “Über Naïve und Sentimentaische Dichtung” ausgeführt. Die realistische Methode, die vom Gegenstand ausgeht, ist die des naiven Menschen. Für ihn sind, nach Schiller, die Existenzbedingungen in der Kulturwelt von heute ungünstig. Im naiven Menschen sind Vernunft und Sinne, der intuitive und der reflektive Verstand noch nicht gesondert, er kennt sich nur als ganzen, ungeteilten Menschen, hat sich noch nicht kraft seines Geistes der Welt enthoben und fühlt sich dort ganz daheim. Aus dieser Vertrautheit zu allem, was ihn umgibt, entsteht seine Dichtung als Steigerung der Wirklichkeit.

Der Rilke der pariser Zeit geht auch vom konkreten Gegenstand aus, aber die Voraussetzungen scheinen genau entgegengesetzt zu sein. Die Welt ist ihm fremd; er will sie sich durch die Kunst aneignen. Sie ist ihm unverständlich; er will sie mittels der Kunst verstehen lernen, sie durch die Kunst deuten. Sie erscheint ihm als tot und seelenlos; zwar reicht seine Kunst nicht aus, sie zu beleben, aber beseelen soll sie die erstarrten Dinge. Diese Kunst wirkt gewalttätig. Sie schafft, weil sie muss, von der bitteren Notwendigkeit getrieben, den Künstler vor dem Andrang des Fremden zu schützen, nicht aus dem  Überfluss des Gefühls, sondern aus Angst vor der Öde. Sie ist dankbar, wenn wenn das Äußere eine Antwort des Gefühles hervorruft. Realistik ist hier etwas ganz Neues. Sie will Realität sein. Rilkes Existenzgefühl will das Ruhende, Unbewegliche, Zeitlose. Es sucht dies bei den Dingen. Da er die Ansprüche des Lebens nicht anerkennt, bedeutet ihm der Nutzwert der Dinge nichts. Die Ruhe der Dinge ist jedoch die Ruhe des Todes, des Nichts, sobald der Mensch sie nicht irgendwie sinnvoll auf sich beziehen kann. Dies kann ihm der Künstler, der den Stein behaut und das Holz beschnitzt, und so das Leblose mit seinem Geiste füllt, ermöglichen. So ist die Arbeit des Bildhauers, der den Stein vermenschlicht oder den Menschen versteinert, eine Lebensnotwendigkeit, die dem Menschen einerseits ermöglicht, einen Sinn in seiner Umgebung zu sehen, ihm andererseits, ganz unabhängig von seinem eigentlichen Gehalt, eine Offenbarung des idealen Zustandes eines ruhenden Seins ist.

Gegenüber der bildenden Kunst hat die Dichtkunst es schwer, sich zu behaupten, denn das Dichtwerk besitzt keine dingliche Realität. Sie kann den Stein nicht beseelen, aber sie kann, indem sie solche Kunstdinge deutet, ihren menschlichen Wert vertiefen.  Das versuchen Gedichte wie “Das Kapitäl” oder “Die Treppe der Orangerie”. Sie kann auch das Lebendige wie ein Werk der bildenden Kunst betrachten, aber ohne damit den Vorteil zu erzielen, wieder einen beseelten Stein geschaffen zu haben. Man hat zuweilen das Gefühl, dass Rilke während dieser Jahre daruner litt, dass es seiner Kunst nicht möglich war, wirkliche, handgreifliche Dinge zu fabrizieren. Rilke konnte keine Dinge machen, die den Vorrat der ruhigen, ungefährlichen Gegenstände für sich und andere vermehren würden, wie der Handwerker. Er besaß keinen Zauberstab wie Rodin,  mit dem man den lebendigen Leib berühren konnte, um ihn zu versteinern und die Bewegung des Augenblicks für immer festzuhalten, so dass er, wie die Zauberer im Märchen, ganz umgeben von steinernen Menschen würde leben können, Steinbildern, deren Anschauung ihn die Zeit vergessen machte, weil die Steine von der Zeit nichts mehr wissen. Aber es ist überhaupt eine seltsame Vorstellung, dass der Künstler bilde, um sich eine Welt zu schaffen, in der es sich leichter leben lässt als in der wirklichen. Auch Rilke wusste im Grunde immer, dass das Kunstwerk nur Monument eines hochbegnadeten Augenblicks ist und nicht Welt. “Darin liegt die ungeheure Hilfe des Kunstdings für das Leben dessen, der es machen muss, -: dass es seine Zusammenfassung ist; der Knoten im Rosenkranz, bei dem sein Leben ein Gebet spricht, der immer wiederkehrende, für ihn selbst gegebene Beweis seiner Einheit und seiner Wahrhaftigkeit ….”. [18] Ein Leben, das vorwiegend im Nacherleben von Kunstaugenblicken besteht und deshalb zeitlos ist, kann es für einen schöpferischen Menschen nicht geben. Das Schaffen selber ist nämlich nicht ruhige Arbeit. “Kunstdinge sind immer Ergebnisse des In-Gefahr-Gewesen-Seins, bis wo kein Mensch mehr weiter kann.” Auch wo sich Rilke Motive aussucht, die scheinbar ungefährlich sind, wie der Panther, hat das Dichtwerk, das entsteht, doch das Leiden an der Welt zur Voraussetzung. Eine Sicherheit im Äußeren kann Rilke also nicht in der Kunst und im Künstlertum finden. Wenn er sie trotzdem sucht, gefährdet er sein Schöpfertum. Dies begreift Rilke in zunehmendem Maße, und das Gewicht seines Künstlertums verschiebt sich von außen nach innen. Er erlebt nicht mehr den im Kunstwerk schon fixierten Moment nach, sondern öffnet sich der überwältigenden Fülle der Eindrücke in der Hoffnung, sie möchten sich schließlich in ihm zur Gestalt zusammenballen. Nicht mehr das Werk als solches ist wichtig, sondern die Tatsache, dass es dem Künstler gelungen war, es zu vollenden. So verliert der Begriff der Grenze an Bedeutung für Rilke. Er sieht das menschliche Sein nicht mehr vom Ding her, sondern vom Engel aus. Er sucht nicht mehr Zuständlichkeit in der Welt, sondern Ewigkeit im Überweltlichen und Geistigen, zu dem der Mensch unterwegs ist.  Der Engel ist Sinnbild und Empfänger aller Augenblicke, in denen der Mensch in absolutem Frieden mit sich selbst und der Welt ruht und eine Vorahnung von göttlicher Selbstgenügsamkeit bekommt. Nun, wo er das Ideal des Seins sich nicht mehr im Äußeren zu verwirklichen sucht und nur geistige Realität anstrebt, wird Rilke das Leben wieder Wanderung und Suche, und mag er auch immer noch in weltlichen Dingen das aktive Mitwirken vermeiden, so erlebt er doch jetzt, statt bloß zu schauen.

In dem beschränkten Raum dieser Arbeit kann der Charakter der neuen Welt und Lebensanschaung Rilkes nur ungenügend behandelt werden. Man kann aber trotzdem nur in diesem sehr breiten Rahmen die Veränderung in Rilkes Einstellung zu den Dingen richtig verstehen. Es gilt, erst die neue Lebenshaltung Rilkes, auf die sich eine neue Auffassung von der Struktur der Welt aufbaut,  welche auch die Dichtung Rilkes stark beeinflusst, zu schildern. Hiernach kann man Rilkes Einstellung zu den Dingen seines täglichen Umgangs durch die verschiedenen Perioden seines Lebens hindurch als eine Auswirkung seiner jeweiligen Weltanschauung erkennen.


c) Weisen künstlerischen Verhaltens zum Stoff: Schauen, Liebe.

Die neue Lebenshaltung kommt vielleicht am klarsten in den beiden Gedichten “Waldteich” und
“Wendung” zum Ausdruck, welche fast gleichzeitig im Juni 1914 entstanden. Das erste Gedicht beginnt mit der vergleichenden Schilderung eines Waldteiches, der weich mit spiegelnd stiller Oberfläche ganz in sich und seine eigene dunkle Tiefe eingekehrt, zwischen ungebogenen, schweigenden Bäumen geborgen ruht und das Spiel der Libellen schaut, und dagegen das Meer, das ungeschützt dem Einfluss des Raumes, der zugleich Ferne und Sturm, Unruh und Gefahr ist, offen liegt. Wo das Meer sich der Gewalt des Sturmes ausliefert, sich ihr hinhält und sie in ihrer ganzen Stärke erleidet, wird der Waldsee nur vom Schatten ferner Wolken verdüstert. Sein Erlebnis des Sturmes ist indirekt und sagenhaft. Seine Tiefe bleibt unversehrt und nie bewegt, nur die Oberfläche spiegelt eine Bewegung, erlebt sie scheinhaft, wie auch das Gespiegelte bezeichnenderweise nur Spiel ist.  Der Dichter fühlt, dass alles was er tut im Grunde immer nur eine Verkleidung ist, die sich um den Kern der Wirklichkeit, den er nicht mehr kennt, um seine schlafende Kindheit schmiegt. Auch in der Vierten Elegie wendet er sich mit Ekel von den halbgefüllten Masken, wie dem Tänzer, der ein verkleideter Bürger ist, ab. Er will das, was er ist, ganz sein: “dass mich eines ganz ergreifen möge” bittet er. Im “Waldteich” werden die drei Möglichkeiten zu sein aufgezählt: es gibt das reine Schauen, es gibt die Liebe, und eine dritte, die immer wieder in Augenblicken des Konfliktes und der Verzweiflung auftaucht, die aber im Grunde für den Menschen gar nicht in Frage kommt: das unbewusste, einige Dasein der Blume. Noch am Anfang der Neunten Elegie, in der das Positive der menschlichen Existenz ein für alle Mal erkannt und gepriesen wird, wirft Rilke die Frage auf: “Warum wenn es angeht also die Frist des Daseins zu verbringen als Lorbeer …. Warum dann Menschliches müssen -?” Für den bewussten Menschen gibt es aber im Grunde nur zwei mögliche Haltungen: Anschaun und Liebe. Die erstere war die, die Rilke zur Zeit der Dinggedichte angestrebt hatte. Bis zu Ende geführt ist sie die Haltung der reinen Kontemplation, in der der Mensch sich aus dem Leben herauslöst und seine  Individualität preisgibt. Schopenhauer hat sie in seiner Abhandlung über das Objekt in der Kunst so treffend beschrieben, dass es vielleicht nicht überflüssig ist, ein Zitat hier einzufügen:

Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren lässt, aufhört nur ihre Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehen, also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet; sondern einzig und allein das Was; auch nicht das abstrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewusstsein ausfüllen lässt; sondern, statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewusstsein ausfüllen lässt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was immer; indem man nach einer sinnvollen deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert d.h. eben sein Individuum, seinen Willen vergisst und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt, so dass es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden der ihn wahrnimmt, und man also nicht den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eines geworden sind, indem das ganze Bewusstsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; wenn also solchermaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum; denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist reines willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.”

Rilke hat die Möglichkeit des reinen Schauens in der Vierten Elegie erwogen. In ihm kämen die Puppe, die menschliche oder im Bezug zum Menschen verstandene Gestalt, insofern sie ihre Lebendigkeit und ihre Individualität abgelegt hat, und mechanisch bewegt und anonym geworden ist, weil der Beschauer selbst alle Erinnerung an das Leben von sich getan hat, und dann vom erlösten, ruhenden Geist aus, der Engel, im ziellosen  Spiel zusammen. Dieses Spiel ging jedoch über den Menschen hinweg; es geht ihn nichts mehr an, weil es vom Leben nichts mehr weiss. Die Schwierigkeiten, die für den Künstler aus einer nur schauenden Haltung erstehen, sind an anderer Stelle schon besprochen worden. Ganz erfolglos wird das Schauen zwar selten sein, irgendwie wird der Dichter das Angeschaute, auch wenn es “sich entzieht”, schon deuten können, aber er löst es aus seinem eigentlichen Lebensraum heraus und nimmt ihm damit seinen lebendigen Wert. Wie in einem fremden Zimmer wird es in der beschränkten Herzkammer gefangen. So wurde der Panther aus der Weite seiner Urwälder geholt und in den Käfig gesperrt, in dem er langsam erstarrte.

d) Erfahrung des Einbezogenseins im Weltganzen durch die Liebe. (Weltinnenraum) Das isolierte Ding wird zum Ding des Bezugs.

Rilke entscheidet sich hier für die Liebe als die höchste der drei Möglichkeiten. Liebe bedeutet leidendes Erleben der Welt: in ihr tritt der Mensch in direkte Beziehung zu seiner Umwelt und lässt sie auf sich einwirken. Er erkennt die Verbundenheit der Menschen untereinander und mit ihm an. Wenn er als Künstler eine innere Bedeutung in ihnen erfährt, dann muss er nun ihre Umgebung mit in Betracht ziehen. “Oh hab ich keine Haine in der Brust? Kein Wehen? Keine Stille, atemleicht und frühlinglich?” fragt er im “Waldteich”. Es soll den Dingen nicht mehr gewaltsam eine Bedeutung aufgezwungen werden, sondern der Sinn muss in langer, intimer Bekanntschaft mit ihnen selbstverständlich werden, so dass er zuletzt gar nicht mehr übersehen werden kann. Im Zusammenhang mit dem Weltganzen steht ein jedes Ding in einer ganz bestimmten Beziehung zum Menschen, es hat ein Wesen in Bezug auf den Menschen, aber diese Wesen muss der Mensch im Kontakt mit den Dingen erfahren.  Der Intellekt und das Gefühl, mit denen Rilke in Paris den Dingen begegnet war, reichen nicht dazu aus, diesen Sinn zu offenbaren. Die Liebe, die hier beschrieben wird, ist nicht eine lyrische Verschmelzung mit den Dingen; sie wahrt die Distanz zwischen sich und dem begegnenden Objekt und freut sich des sinnvollen und schönen Verhältnisses, in dem sie zu einander stehen. In diesem Sinne darf man die Schlusszeilen des Gedichtes verstehen:

Oh, ich habe zu der Welt kein Wesen,
wenn sich nicht von draußen die Erscheinung,
wie in leichter vorgefasster Meinung,
weither heiter in mich freut.

Rilke kommt zu der Überzeugung, dass es ein Weltganzes gibt, in dem jeder Teil in einer notwendigen und sinnvollen Beziehung zum Menschen steht. Zu diesem Weltganzen gehört alles, was jemals Gestalt angenommen hat. Es weiss von Zeit und Geschichte nichts. “In jener größten ‘offenen’ Welt sind alle, man kann nicht sagen gleichzeitig, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, dass sie alle sind.” [19]Diese Gedanken verdichten sich in der Vorstellung eines Weltinnenraums: ein Raum des Geistes, in dem alle äußeren Erscheinungen ihre notwendigen inneren Äquivalente haben.

Zwei kurze Aufzeichnungen, die Rilke 1913 in Spanien machte und “Erlebnis” betitelte, geben Aufschluss darüber, wie er erstmalig zu der Vorstellung eines inneren Raumes gelangte.  Er beschreibt dort, wie er sich während eines Gartenspazierganges in die Gabel eines Baumes lehnte und in dieser Stellung plötzlich eine seltene Nähe zur Natur verspürte. Er fühlte sich “eingeruht” in den Baum, “völlig eingelassen in die Natur” und verweilte “in einem beinah unbewussten Anschaun”. Es kam ihm vor, “dass fast unmerkliche Schwingungen aus dem Innern des Baumes in ihn übergingen”.  “Sein Körper wurde gewissermaßen wie eine Seele behandelt und in den Stand gesetzt, einen Grad von Einfluss aufzunehmen, der bei der sonstigen Deutlichkeit leiblicher Verhältnisse eigentlich gar nicht hätte empfunden werden können.” Für diesen Zustand fand er den Ausdruck, “er sei auf die andere Seite der Natur geraten.” Irgendwie schien er nicht mehr zu der Welt der äußeren Natur zu gehören. Er wusste sich unabhängig von den Dingen, andererseits machte es sie ihm viel deutlicher. Sie berührten ihn mit so unerschöpflicher Bedeutung, als ob nun nichts mehr zu verbergen sei.

Das zweite Erlebnis wurde ihm in Capri zuteil. Er beschreibt, wie damals ein Vogelruf draußen und in seinem Innern übereinstimmten, indem er sich gewissermaßen an der Grenze des Körpers nicht brach, beides zu einem ununterbrochenen Raum zusammennahm, in welchem geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten und tiefsten Bewusstseins blieb. Sein Verhältnis zu den Dingen war damals das einer gesteigerten Sachlichkeit. Er verlor auch sein Zeitbewusstsein nicht, sondern war sich während des Erlebens bewusst, dass dieser Augenblick vergehen würde und erwartete bereitwillig einen unendlich gesetzmäßigen Ausgang dieses Zustandes. Hier wird die innere Welt visionär erfahren.

Der Weltinnenraum wird zum ersten Mal in einem Gedicht, das ein Jahr nach der Niederschrift dieser Erlebnisse entstand, erwähnt.

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus und in mir wächst der Baum.

Das, was fremd an uns vorüberging und was uns gleichgültig war, kommt uns so nah, dass Fühlung – Schwingungen hieß es vorher – zu uns übergehen kann.  Die Erscheinungen stehen an uns, “umarmend und umarmt”, in einem Liebesverhältnis. Masken und Hüllen, Zufälle und Uneigentlichkeiten sind abgetan, und die Gegenstände bringen es fast zum Gesicht, in dem alle Geheimnisse offen daliegen. Diesen Zustand, in dem die Grenzen gefallen sind und die Wahrheit unverhüllt ist, nennt Rilke “Wesen”.

Man muss sich davor hüten, dieses Erlebnis als eine mystischen Verschmelzung mit der Natur deuten zu wollen. Der Dichter und die Dinge stehen sich gegenüber und der Abstand ist eher größer denn kleiner als sonst. Neu ist, dass Rilke hier mit dem Gefühl erfährt, dass alle die Dinge der Welt, die ihn umgeben und seinen Geist anzusprechen vermögen, ihrer Natur nach in einem sinnvollen Verhältnis zu ihm stehen und ihm ihr wahres Wesen offenbaren können. Er erlebt sich als einen Teil des Weltganzen, den unsichtbare Fäden mit allem anderen verknüpfen. Er ist “eingeruht” in die Welt, im umfassendsten Sinne in der Welt beheimatet. Alle Dinge der Welt haben ihren gesetzmäßigen Platz im Kosmos des menschlichen Geistes. Wiederum kann man eigentlich hier nicht von einem Naturerlebnis sprechen, denn das Lebendige der Natur, wenn es ihm auch das Visionäre ermöglicht, interessiert ihn eigentlich nicht. Sie ist ihm ruhende zeitlose Realität.

Dieses Gefühl der Alleinigkeit der Welt findet jedoch nirgendwo lyrischen Ausdruck, sondern wird philosophisch ausgewertet. Aber die gefühlsmäßige Vorwegnahme des Gedankens ermöglichte Rilke erst, ihn schöpferisch zu behandeln und dieses Gefühlserlebnis schenkt ihm zweimal eine ganz bestimmte Landschaft. Das erste Mal ist es Toledo in Spanien. “Erscheinung und Vision”, schreibt er in einem Brief, “kamen gleichsam überall im Gegenstand zusammen, es war in jedem eine ganze Innenwelt herausgestellt, als ob ein Engel, der den Raum erfasst, blind wäre und in sich schaute. Diese nicht mehr vom Menschen aus, sondern im Engel geschaute Welt ist vielleicht meine wirkliche Aufgabe, wenigstens kamen in ihr alle meine früheren Versuche zusammen.” [20] Damals schien ihm die spanische Landschaft wie ein Schlüssel zu einer ganz großen und endgültigen Kunst, aber es gelang ihm noch nicht diese Kunst zu verwirklichen. Es folgen hierauf Jahre des verzweifelten Ringens. Er versucht, seinen inneren Maßstab der Weite der irdischen Welt anzupassen und wendet sich in dieser Zeit immer wieder der Nacht zu, diesem größten Übergewicht seines Schauens, die ihm die kaum ermesslichen Fernen  der Sterne vorhält. Indem er sich diesem Erlebnis völlig vorbehaltlos ausliefert, weitet sich an der Unermeßlichkeit der Himmelsräume sein eigener Herzraum. “Hinhalten will ich mich, wirke, geh über so weit du vermöchtest”, heißt es in einem der Gedichte an die Nacht:

oh, wie wollte ein Fühlender nicht, der will, der sich aufreißt,
unnachgiebige Nacht endlich dir ähnlicher sein.

Die Suche nach einer höheren Kunst wird für Rilke die Suche nach der Geliebten. Nur durch sie können die gewonnen Eindrücke zum bleibenden Kunstwerk zusammengeschlossen werden.

Perlen entrollen, Weh, riss eine der Schnüre?
Aber was hülf es, reih ich sie wieder,: du fehlst mir,
starke Schließe, die sie verhielte, Geliebte.

In allen Gedichten tritt er nun als Wartender, Hoffender, Flehender auf. Überall im Geschauten findet er Spuren der Geliebten, aber sie selbst entgeht ihm immer wieder. Er spürt, dass sein Gefühl abgestumpft ist. Die Liebeskraft, die Rilke stets von neuem dem persönlichen Verhältnis entzogen hatte, musste für seine Kunst fruchtbar werden, wenn sie nicht ganz verloren gehen sollte. Dies aber wäre die tiefste Niederlage für ihn gewesen. Um diese Zeit schreibt er Lou, dass er immer mehr dazu neige, einen Halt an anderen Menschen zu suchen, und dies sei immer ein schlechtes Zeichen für ihn.

II   Verfehlen einer sinnvollen Beziehung des Dichters zum Menschen

Die künstlerische Erfüllung wurde Rilke erst ein Jahrzehnt nach dem so verheißensvollen spanischen Aufenthalt zuteil. Vorbereitend war dieses Mal das Erlebnis der Landschaft des Wallis, die Rilke sehr an Spanien gemahnte. Sie hatte einen schöpfungshaften Rhythmus. “ … es bilden sich Länder vor einem, als schüfen sie sich erst – und was an Dingen (Häusern und Bäumen) innerhalb dieser Perspektiven vorkommt, hat die Distanzen und Spannungen, die wir aus dem Aufgang der Sternbilder kennen: als ginge aus diesem großartigen Entfaltet- und Aufeinanderbezogensein der Einzelheiten Raum hervor, - eine Erscheinung, die nicht so überzeugend könnte erfahren werden, wäre die Luft nicht von einer unbeschreiblichen Teilnehmung an allem Gegenstand, umschauerte sie ihn nicht so und machte sie nicht jeden Zwischenraum, bis in die Hintergründe hinein zu ihrem Glück, zum Schauplatz so und so vieler gefühlter (dächte man) Übergänge …” [21] Vergleicht man diese Beschreibung mit der der Worpsweder Landschaft zwanzig jahre früher, die die Epoche der Neuen Gedichte eingeleitet hatte, dann kann man den Wandel in Rilkes Kunst ganz klar erkennen. In Worpswede hatte ihn die Einsamkeit und Unabhängigkeit der verschiedenen Dinge, die in der Landschaft standen – auch dort waren es vor allem Bäume und Häuser – beeindruckt, und gleichermaßen hatte er in Paris in jedem Teil das einsame Ganze zu sehen versucht. Jetzt erlebt er die Spannungen, das Aufeinanderbezogensein der Einzelheiten, die Übergänge zischen ihnen. Es kommt ihm um Beziehungen oder um das Wort, das jetzt immer wieder vorkommt, zu gebrauchen, auf Bezug an. Das Ding, das weiterhin im Mittelpunkt seiner Kunst steht, ist nicht mehr einsam, sondern ein Ding des Bezugs.

Die Natur des Bezugs ist, dass in ihm die Grenze zwischen Anderem oder Widersprüchlichem fällt und einst Getrenntes in eine Verbindung mit einander tritt, in der jedoch jedes seine Selbständigkeit beibehält. In der Vorstellung des Weltinnenraums waren die Dinge in eine geistige Beziehung zum Menschen getreten. Gleichermaßen sind in der “vollzähligen Zeit” die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gefallen. Für die konkrete Erkenntnis und die dichterische Bildung dieses Gefühles, dass alles auf der Welt sinnvoll auf den Menschen bezogen ist, werden die Dinge wieder wichtig,  und zwar jetzt in erster Linie die des Gebrauchs und Umgangs. Denn sie sind aus der Beziehung zwischen Mensch und Welt hervorgegangen, und anders als die Kunstdinge existieren sie auch weiterhin als tägliche Brücke zwischen Mensch und Natur. Sobald es dem Menschen gelingt, in ihnen eine sinnbildliche Bedeutung zu erblicken,  erhält auch die Natur, vor der sie schützen, oder die sie dem Menschen zugänglich machen, eine sinnbildliche Bedeutung, das heißt, sie tritt in direkte Beziehung zur Geisteswelt des Menschen. In den Dinggedichten der “Sonette an Orpheus” wird nunmehr das Ding des Bezugs und nicht mehr das selbstgenügsame Kunstding besungen.

Aber auch in dieser all-einigen Welt steht der Mensch einsam im Kosmos. Eine sinnvolle Beziehung zwischen Mensch und Mensch hat Rilke nirgendwo in seiner ganzen Dichtung dargestellt, es sei denn am Ende der Fünften Elegie, wo es heißt:

Engel! :  Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,
auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die’s hier
bis zum Können nie bringen, ihre kühnen
hohen Figuren des Herzschwungs,
ihre Türme aus Lust, ihre
längst, wo Boden nie war, nur aneinander
lehnenden Leitern, bebend, - und könntens,
vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:

Diese Möglichkeit kann nur jenseits des irdisch-vergänglichen Lebens erfüllt werden.





E.  Die gelebte und praktische Beziehung Rilkes zu den Dingen

Das Ding war immer schon ein wichtiger Bestandteil von Rilkes Umwelt, und man lernt seine Bedeutung für das Werk Rilkes erst verstehen, wenn man auch die gelebte und praktische Beziehung des Dichters zu den Dingen würdigt.

Es lassen sich hier zwei wichtige Epochen in Rilkes Leben erkennen. In der ersten, die ihren künstlerischen Abschluss in dem 1914 erschienenen Aufsatz über die Puppen findet, stand der Mensch in einem Spielverhältnis zum Ding. Er kannte es hauptsächlich als Kinderspielzeug und als Kunstwerk.  In der zweiten Epoche trat dann der Gebrauchscharakter des Dinges in den Vordergrund. Diser Umschwung steht in engem Zusammenhang mit der Wende vom Kunstwerk zum Engel, und vom Kind zum Künstler, die im Vorausgehenden beschrieben worden ist.

I. Wandlung der Einstellung von Ding als Spielzeug zum Ding als Gebrauchs- gegenstand

Hier muss noch einmal gefragt werden, warum Rilke den Dingen so besonders nahestand, so nahe, dass er von sich behaupten konnte, er lebe durch die Dinge. In der Einleitung habe ich versucht zu zeigen, dass Rilke hier in einer zeitgeschichtlichen Entwicklung stand. Aber auch Rilkes Charakter und sein persönliches Schicksal, besonders seine Kindheitserfahrungen, haben nach Rilkes eigenem Urteil hierzu beigetragen.

a) Begründung der Bedeutung des Dinges für Rilke

Im Rodinvortrag fordert Rilke sein Publikum auf: “Gedenken Sie, ob es irgendetwas gab, was ihnen näher, vertrauter und nötiger war als so ein Ding, ob nicht alles – außer ihm – imstande war, Ihnen weh oder unrecht zu tun, Sie mit einem Schmerz zu erschrecken oder mit einer Ungewissheit zu verwirren? Wenn Güte unter Ihren ersten Erfahrungen war und Zutraun und Nicht-allein-sein – verdanken Sie es nicht ihm?” [22] In dem Verhältnis zum Ding findet das Kind die Sicherheit, die ihm sonst in einer feindlichen und unverständlichen Welt versagt ist. Auch schon für das Kind ist nämlich die Welt voller Gefahr. Da gibt es die Unheimlichkeit, die es des Nachts überfällt, “das wallende Chaos”, und demgegenüber ist das Ding die Gestalt, das Bestimmte, auf das man sich verlassen kann, weil es sein Aussehn nicht ändert. Darüberhinaus war das Ding relativ unabhängig von Zeit und Zufall, und das Kind war auch vor dieser Ungewissheit sicher, wenn es sich den Dingen zukehrte. Aber vor allem suchte es bei den Dingen Zuflucht vor den Menschen. Im Puppenaufsatz heißt es von der Kinderzeit: “Der einfachste Verkehr der Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus; mit einer Person, die etwas war, konnten wir unmöglich leben und handeln, wir konnten uns höchstens in sie hineindrücken und in ihr verlorengehen.” Sein ganzes Leben lang hat Rilke in Furcht davor gestanden, dass er sich in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen irgendwie verlieren könnte und von seinem eigensten etwas einbüßen würde. In der Geschichte vom Verlorenen Sohn drückt Rilke diese Ideen sehr deutlich aus.
Als Kind schon flieht dieser aus dem Hause, wo ihn alle lieben, in die innige Indifferenz der Natur. Denn die Liebe ist schrecklich gewalttätig.  Im Hause war er der, für den die anderen Hausbewohner ihn hielten, nur Kleinigkeiten konnten sich noch ändern. Man war der, “dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wünschen längst ein Leben gemacht hatten;” er war “das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.” Man stand in Gefahr, das Ich-selbst gegen ein Man-selbst einzutauschen.

Rilke hatte eine derartige Vergewaltigung wahrscheinlich in mehr als einer Hinsicht erfahren. Seine Mutter, die sich ein Mädchen gewünscht hatte, kleidete ihren Sohn bis zu seinem fünften Lebensjahr als Mädchen, damals nichts Ungewöhnliches, aber sie scheint ihn auch ganz als solches behandelt zu haben.  In der Militärschule St. Poelten erfuhr er dann einen Corpsgeist, der nichts
Eigenes zuließ und alles unter den Nenner einer anonymen Gleichförmigkeit brachte. Auch hiergegen lehnte er sich wohl im Stunden-Buch auf, als er die Notwendigkeit zur Einsamkeit verkündete. Außerdem brauchte Rilke als Künstler Ruhe, um schaffen zu können. Diese Einsamkeit werden die “Leute”, alle welche zufrieden in dieser Anonymität leben, nie wirklich begreifen können. “Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehasst, ohne ihn zu kennen. “ Und im Gedanken an die Vergewaltigung, die die falsche Liebe dem so Geliebten antut, spricht er im Verlorenen Sohn von der “entsetzlichen Lage geliebt zu sein”. Der Verlorene Sohn nahm sich vor, nie jemand zu lieben, und wie er es dann doch tut, ist es unter unsäglicher Angst um die Freiheit des anderen.  Es gibt zwar eine reife, gekonnte Liebe, die in den Elegien als eine der vollendeten Formen des Seins gefeiert wird. In ihr gibt es aber im Grunde kein Geliebtsein mehr, denn beide Liebende lieben über den anderen hinaus und durch ihn hindurch ins Offene. Die Menschen müssen zu Liebenden werden, denn weil das Geliebtsein immer voller Gefahr ist, sind die Liebenden sicher, und es kann ihnen nichts geschehen. “Immer übertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben größer ist als das Schicksal.”

Es ist also aus Angst vor einer solchen besitzergreifenden Liebe, dass das Kind den Dingen zuflüchtet. Aber nicht nur das Kind. Auch die Vorliebe für die Dinge, die für den erwachsenen Rilke charakteristisch ist und die einem in diesem Intensitätsgrade merkwürdig anmutet, läßt sich wohl weitgehend aus einer Unzulänglichkeit in der Liebe, deren sich Rilke, wie aus vielen seiner Briefe hervorgeht, auch bewußt war, und dem dadurch entstandenen Bedürfnis nach Sicherheit herleiten. “Wenn ich Menschen suche, so raten sie mir nicht und wissen nicht, was ich meine. Und Büchern gegenüber bin ich ebenso (so unbeholfen), und sie helfen mir auch nicht, als ob auch sie noch zu sehr Menschen wären …. Nur die Dinge reden zu mir” schreibt er 1903 aus Paris. [23]Und drei Jahre später in einem Brief an seine Frau gibt er seine Unfähigkeit, ihre Liebe ganz zu erwidern, zu. “Dieses Gesicht müsste seine Gedanken da sein und aus ihnen hinausschauen zu niemandem hin, ein Stück Himmel findend, einen Baum, einen Weg, etwas Einfaches, wobei es anfangen kann, etwas, was ihm noch nicht zu schwer ist.” Und so kommt die eigenartige Perspektive in Rilkes Werk, die jedem Leser auffallen muss, zustande. Er erklärt sich selbst: “Meine Welt beginnt bei den Dingen, und so ist in ihr der mindeste Mensch schon erschreckend groß, ja beinahe ein Übermaß.”[24]

Bis hin zu den Duineser Elegien ist Rilkes Dichtung von der Idee seiner Kindheit überschattet. In den frühen Gedichten sind die Probleme zurückgedrängt, und der Zustand des Kindseins wird mit einem rosigen Schein überzogen. Im Malte schaffen sich dann die Ängste der Kindheit gewaltsam Luft und geben den Weg frei zu einer Überwindung, die schließlich in den Duineser Elegien gelingt. Während Rilke noch unter dem Einfluss seiner Kindheit steht, ist ihm das Ding auf die eine oder andere Weise Spielzeug.

b) Das spielende Ding in Analogie zum Künstler. Spielzeug, Kunstding.

In einer der Geschichten vom Lieben Gott wird erzählt, wie der Fingerhut dazu kam, der Liebe Gott zu sein. Wenn Dinge lebendig sind, heißt es dort, dann können sie “verschiedes werden, und ein Ding, welches als Bleistift oder als Ofen zur Welt kommt, muss deshalb noch nicht an seinem Fortkommen verzweifeln. Ein Bleistift kann mal ein Stock, wenn es gut geht ein Mastbaum, ein Ofen, aber mindestens ein Stadttor werden.” Die Kinder haben keinen Sinn für die Nützlichketit der Dinge. Sie leben in einer Fantasiewelt und kümmern sich wenig um Realitäten. Ihre Umgebung wird, soweit das möglich ist, ins Spiel einbezogen und ist für die Dauer des Spiels eine Welt, die der schöpferische Geist sich geschaffen hat. Die Dinge werden im Spiel vergeistigt. Die Fantasie des Kindes kennt keine Schranken. Rilke rühmt im Rodin-Vortrag die selige Demut des Dinges, seine Bereitschaft, alles zu sein. Das Ding ist lebendig, solange die Fantasie des Kindes aktiv ist. So können die Kinder im Märchen vom Fingerhut beschließen: “ein jedes Ding kann der Liebe Gott sein, man muss es ihm nur sagen”, und der Fingerhut, der Form nach ein Becher in Miniatur, wird Gefäß für das, was die Fantasie der Kinder hineinlegt. Wie im Stunden-Buch die äußere Charakteristik der Welt unwichtig ist und Mensch und Pflanze als Gefäß des einen göttlichen Geistes gesehen werden, so tritt das Ding auch dem Aussehen nach hier in seinem Eigencharkter zurück. Es kommt nur auf die Welt der Fantasie an. Rilke nennt hier das willige, eigenschaftslose Spielzeug den Freund und Vertrauten des Kindes.

Als Freunde und treue Begleiter des Menschen hatte Rilke schon in seiner allerersten Gedichtsammlung Larenopfer die Dinge gefeiert. Es klingt dort überall eine Biedermeierfreude an der Sicherheit beschränkter häuslicher und bürgerlicher Zustände mit, für die der alte Hausrat, die alten Gebäude und die Altstadt symbolisch sind. Im Anblick dieser Dinge träumt der Dichter  sich in die schöne alte Zeit zurück.

Schlichtheit war der Väter Aussat,
Glück die Frucht, die sie gefunden;
sitzt so träumend manche Stunden
dort im Polsterstuhl, im runden
mitten im Urväterhausrat.

Das Biedermeier war eine Zeit, die auf die Dinge hielt und deren Charakter sich gerade in den kleinen Dingen des mensclichen Umganges ausdrückte, Die moderne Zeit schien dies nicht mehr zu tun. Ihre Dinge waren unpersönlich, nicht aus dem Geist und dem Gefühl geboren, und regten deshalb auch die Fantasie nicht an. Rilke vermißte in ihnen den echten Stil.

Die moderne Bauschablone
will mir wahrlich garnicht passen.
Hier dies alte Haus darf fassen
reiche,  weite Steinterassen,
kleine heimliche Balkone.

Und die weitgewölbten Decken,
die so günstig sind den Lauten,
Nischen rings, die eingebauten,
draus die Arme sich der trauten
Dämmrung dir entgegenstrecken.

Alle Mauern breiter, stärker
und aus echten Quaderkernen; -
traun, das Gruseln könnt ich lernen,
seh ich auf die Zinskasernen
aus dem kleinen, stillen Erker.

Kunst im eigentlichen Sinne sucht Rilke hier noch nicht, sondern Anregung für seine schwärmende Fantasie. Er sieht die Dinge auch nicht als Gebrauchsgegenstände, sondern die Tatsache, dass sie einmal gebraucht worden sind, bringt ihn auf die Menschen und die Zeit, die sie brauchten.

Es war überhaupt für Rilke ein geläufiger Gedanke, dass Gebrauchsdinge irgendwie auf mysteriöse Weise das Wesen des Menschen, die mit ihnen umgehen, in sich aufnehmen.

Die Dinge aber müssen willig halten,
was einer ihnen in die Hände legte;
da sagt ein Glas, was meinen Ahn bewegte,
ein Buch verrät mir, was er heimlich hegte,
und dieser Atlas, der um die Gestalten
vergangner Frauen rauschend sich erregte,
fällt immer wieder in dieselben Falten.

Rilke muss von Natur aus ein ungewöhnlich feines Gefühl für Atmosphäre gehabt haben, vielleicht darüber hinaus sogar noch mehr. Er erzählt, dass er auf Schloss Duino, wo er auf Einladung der Fürstin von Thurn und Taxis längere Zeit zubrachte, die Gegenwart der Geister zweier verstorbener Frauen verspürte, und mit ihnen in Verbindung treten konnte. Ein ähnliches Gefühl einer übernatürlichen Gegenwart,  die sich mit einem gewissen Ort oder Gegenstand verbunden hatte, mag ihn auch beim Anblick mancher Dinge überkommen haben.  Im großen Ganzen kann man aber derartige Ausdeutungen von Gegenständen nur als Spiel der Dichterfantasie gelten lassen. Es war ein Spiel, das Rilke sein Leben lang gern betrieb. “ ….alte Häuser, alte Dinge können … die zwingendste Macht über mich bekommen”, schreibt er 1918 in einem Brief, und etwas später heißt es: “Und dass ich alte Dinge um mich wünsche, auch das ist nicht Wählerischsein und äesthtische Ziererei, was haben die mir nicht …. für Menschlichkeit zugetragen: wieviel Mitteilung, wieviel Schicksal geht aus ihnen auf denjenigen über, der es seit Kindheit mit den Dingen gehalten hat.” Malte empfindet es als einen Fluch, “ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde” leben zu müssen, und er beneidet den Dichter Francois Jammes, der dieses alles hat. Denn “er weiss von Mädchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, dass sie tot sind, denn er weiss alles,” weil sich ihre Tagebücher und ihre Kleider noch in den Fächern seiner Schränke befinden. An einer Stelle im Malte Laurids Brigge  erzählt der Held, wie er vor der übriggebliebenen Innenwand eines Hauses, das man abreißt, stehend, plötzlich das Leben der Menschen, die hier gewohnt haben, visionär vor sich sieht.

Es scheint hier überall fast gewaltsam eine Belebung und Beseelung des Toten und Geistlosen versucht worden zu sein. Dieser Mensch, der sich ganz zu den Dingen bekannt hat und sich trotzdem mit jeder Faser seines Wesens gegen eine materialistische Weltanschauung wehrt und alles, was Besitz ist, nicht gelten lassen will, ist unbedingt darauf angewiesen, einen geistigen Wert in den Dingen zu finden, weil ihm sonst garnichts mehr bleibt. Das fantasievolle Nacherleben einer Atmosphäre, die stilechten und oft-gebrauchten Dingen anhaftet, ist eine Möglichkeit dieser Art, und sie kommt dem Spiel des Kindes nahe. Eine zweite Möglichkeit, die Rilke eigentlich erst in Paris aufgriff, war das Erlebnis des Dinges als Kunstgegenstand. Auch hier kommt es Rilke wieder darauf an, in möglichst vielen Dingen diese Kunstwerte zu erkennen. In einem Brief aus dem Jahre 1920 schreibt er: “Spitzen und Schmuck, grade weil sie meist nur als dekorative Leistungen behandelt werden, halten mich immer in einer besonderen Weise fest -, es verlockt mich, in ihnen das Kunstwerk an sich zu entdecken, d.h. die vollkommene Verwandlung und Verzauberung ihres Hervorbringers, die sich im Werk vollzogen und verklärt hat. Wie sollte man nicht Spitzen so betrachten dürfen, die immer ein Leben für sich gewesen sind, eine Absage und eine schon dafür eingetauschte Freude und Dauer und Unerschöpflichkeit.” “Und gerade alter Schmuck lässt sich auch derart auffassen, es ist nicht allein eine schmückende Gestaltung, es ist eine Übertragung dessen, was das eigene Dasein sein könnte, in das Leben der Steine und des Goldes: um ihren Stolz, ihre Stärke, ihre Verschwendung handelt es sich foran – nicht mehr um die Eigenschaften und Zufälle des sie erkennenden Handwerkers.” Selten wird ein reiner Künstler in dieser Weise für das Kunstgewerbe Partei ergreifen. Diese Aussprüche und die Tatsache, dass Rilke immer wieder von der künstlerischen Gabe als Können redet, und vom Schaffen des Künstlers als Handwerk, eine Einstellung, die seine eigene Kunst zu verleugnen scheint, lassen sich gewiss teilweise aus diesem Drang nach Vergeistigung der Materie, die auch seine Liebe zur Skulptur mitbestimmte, erklären. In demselben Brief heißt es: “das ist immer gleich beglückend zu erfahren, wie ein an einer Stelle restlos durchgesetztes Können die ganze Welt auf eine unerwartete Weise in Besitz nimmt und von seiner Mitte aus unerschöpflich macht.” Die Wirkung des Kunstwerkes wird hier also einem Können zugeschrieben und nicht, wie im allgemeinen, der Erkenntnis eines ewigen Wertes.

b) Das spielende Kind in Analogie zum Künstler. Spielzeug, Kunstding.

Der Kunstgenuss ist ebenfalls ein Spiel der Fantasie, wenn sich auch dieses Spiel innerhalb von strengen Grenzen bewegt und nicht wie Kinderspiel und Träumereien frei umherschwärmt. Der Kunstgenuss ist Spiel, weil er sich jenseits der Nöte und Bedürfnisse des Lebens bewegt, weil der Geniessende das Kunstwerk nicht zu etwas gebraucht – sowie er das tut, betrachtet er es nicht mehr nur als Kunst – und den Abstand zwischen dem Beschauer und dem Werk nicht überbrücken will. Huizingas Beschreibung der Poesie gilt im Wesentlichen für alle Kunst. “Wenn man Ernst als das auffasst, was sich in Worten des wachen Lebens schlüssig ausdrücken lässt, dann wird Dichtung niemals vollkommen ernsthaft. Sie steht jenseits von Ernst, auf jener ursprünglicheren Seite, wo das Kind, das Tier, der Wilde und der Seher hingehören, im Felde des Traums, des Entrücktseins, der Berauschtheit und des Lachens. Um Dichtung zu verstehen, muss man fähig sein, die Seele des Kindes anzuziehen wie ein Zauberhemd und die Weisheit des Kindes der des Mannes vorzuziehen. Von allen Dingen steht nichts dem reinen Spielbegriff so nahe, wie jenes urzeitliche Wesen der Poesie.” [25] Rilke hätte Huizinga vermutlich beigestimmt.

c) Auseinandersetzung mit den Problemen der Kindheit und des Künstlertums anhand des Puppensymbols.

Alles dies bildet den Grund, auf dem 1914 Rilkes Aufsatz “Einiges über Puppen” entstand, und sechs Jahre später die fragmentarischen Verse und Entwürfe zur Fortsetzung des Gedichtes “Lass dir, dass Kindheit war…” Dies ist Rilkes letzte und tiefste Auseinandersetzung mit dem Wesen und den Problemen der Kindheit, und gleichzeitig mit Wesen und Problemen des Künstlers. Man erkennt, warum Rilke so viele Jahre brauchte, bis er seine Kindheit “überwunden” hatte, warum der Verlorene Sohn im Malte Laurids Brigge sich entschloss, seine Kindheit “noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen”. Kind und Künstler, beide sind sie Spielende, und als solche haben sie dieselben Probleme.
Die Puppen sind nur Spielzeug und werden nie in einer wirklichen Situation Sinn haben: “ernährt mit Scheinspeise wie der ‘Ka’, das Wirkliche wo’s ihnen durchaus sollte beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmierend…”.  Sie sind “undurchdringlich und  in dem äußersten Zustand vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgendeiner Stelle einzunehmen.” Unzugänglichkeit und Selbstgenügsamkeit waren in der pariser Zeit Merkmale des Dinges, und in besonderer Weise des Kunstdinges.  Rilke vergleicht hier jedoch die Puppe mit den Dingen, die in einer tätigen und praktischen Beziehung zum Menschen stehen, Geräten und Gebrauchsdingen aller Art: einem Nähstock, einem Spinnrad, einem häuslichen Webstuhl; einem Brauthandschuh, einer Tasse, dem Einband und den Blättern einer Bibel; mit Hammer, Geige, Hornbrille und Kartenspiel. Er nennt die Perle, die durch Berührung mit der Haut des Trägers auf geheimnisvolle Weise lebendig bleibt und abstumpft, sowie sie nicht mehr getragen wird, dazu Waffen und Rüstungen, denen man noch die Spuren der Kämpfe, in denen sie gebraucht wurden, ansieht. Alles dies sind Dinge “die  ins menschliche Leben ausführlich und innig einbegriffen waren”. Diese Gebrauchsdinge werden hier eigentlich zum ersten Mal genannt, nicht als solche, die früher einmal gebraucht worden sind, heute aber nur dazu dienen, Erinnerungen zu wecken, sondern als Gegenstände, mit denen die Menschheit früher gelebt hat und heute noch lebt. Es sind Dinge, die man immer um sich hat und die einem durch ihre Nützlichkeit der einen oder anderen Art liebe und unentbehrliche Begleiter werden können. Sie bringen dem Menschen Hilfe in der Not, schmücken ihn, wenn er sich festlich fühlt, ermöglichen es ihm, seine Mußestunden auszufüllen, verhelfen seinen Gefühlserregungen zum Ausdruck und befriedigen seine Bedürfnisse. So stehen sie in direkter Beziehung zu den Affekten des Menschen und gewinnen hierdurch eine Seele. Auch das Schaukelpferd gehört dazu, obwohl es ein Spielzeug ist, denn es erfüllt eine einzige ganz bestimmte Funktion. Das Kind braucht es, auch wenn seine Fantasie dabei das hölzerne Tier überflügelt.

Die eben aufgezählten Dinge sind Ergänzungen und Erweiterungen des Menschen. Die Puppe ist etwas anderes als die Gebrauchsdinge, aber sie ist auch etwas anderes als “Fingerhut, Bleistift und Ofen”, denn da sie die Gestalt des Menschen hat, ist der Fantasie des Kindes nicht freier Lauf gelassen, sie muss einen Menschen schaffen. Sie dient sozusagen als Spiegel für das Kind, in dem es sich, und an sich den Menschen überhaupt, zum ersten Mal mit Bewusstsein sieht. Es geschehen hier also zwei Dinge: Das Kind wird an der Puppe zum Künstler, indem es im Spiel seinen vagen Gefühlen und Ahnungen eine bestimmte Gestalt gibt. Darüberhinaus schafft es sich einen Freund, einen Mitmenschen und Gegenspieler.

Insofern als das Spiel schöpferisch ist, ist es eine Steigerung der natürlichen Möglichkeiten, eine Idealisierung und Verewigung der Welt.

Fernen des Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter
selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs,
weit über Enkel hinaus -, die getroste Natur!
Freundin des Todes, denn in der leichten Verwandlung
wuchs sie ihn hundert mal durch …O Puppe
fernste Figur -, wie die Sterne am Abstand
sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn.
Ist es dem Weltraum zu klein: Raum der Gefühle
spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum.

Rilke hat sich hier zu einer Anschauung der Kunst durchgearbeitet, die der Goethes ähnlich ist. Der Mensch als Gipfel der Natur, hat es in seiner Macht, im Geiste die Natur weiterzuführen zu einer Perfektion, einer “Seligkeit”, die sie in der realen Welt nicht erlangen kann. Dies geschieht, indem die natürlichen Gesetze vollständig erfüllt werden. Weil der Mensch der Natur diese Vollendung geben kann, “brauchen” die Dinge ihn. Bei Rilke ist aber das Ideal der Natur bis zuletzt eines der Ruhe und der Dauer und deshalb grundsätzlich anders als bei Goethe. Es steht hier der Makrokosmos des Weltraumes dem Mikrokosmos des menschlichen Geistes, dem gesteigerten Raum der Gefühle, gegenüber. Das Kind im Spiel lebt ähnlich wie der Sänger Orpheus; mit jeder neuen Gestalt der Puppe stirbt es den Tod der alten Gestalt, überschreitet sie zur neuen, über die es wiederum hinaus muss. Verwandlung oder Metamorphose ist das Dasein des idealen Künstlers.

O wie er schwinden muss, dass ihrs begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, dass er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,

Ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwängt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.

Spielendes Kind und singender Gott sind also ein und dieselbe Gestalt. Beide leben in der Geistes- und Scheinwelt der Kunst. Spiel und Kunst können dadurch, dass sie gesteigerte Natur sind, den Menschen auf das wirkliche Leben vorbereiten.

Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos
drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob –

Die Schwierigkeiten entstehen dann, wenn diese Scheinwelt und die Wirklichkeit zusammenkommen. Die Puppe als Ding hat in der wirklichen Welt gar keinen Sinn: sie ist weder Mensch, als Freund zu gebrauchen, noch Gebrauchsgegenstand, den man zu einem Zweck benützen kann. Es ist überhaupt nichts mit ihr anzufangen, sie ist eine “oberflächlich bemalte Wasserleiche, die sich von den Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit heben und tragen ließ”. Betrachtet man sie als Ding, so geht alle Zärtlichkeit an ihr verloren. Sie gehört eben wie das Kunstding in das Reich des Scheines.

Die Puppe birgt in sich die Versuchung dazu, mit dem Selbstgeschaffenen, das im Grunde gar nicht von dem Menschen, der es schuf, unterschieden ist, zu leben, es als Wirklichkeit hinzunehmen. Das war sogar die Lösung, die Rilke in Paris eine zeitlang für möglich hielt, als er meinte, Rodin lebte von seinen Statuen umgeben in einer ruhenden ungefährlichen Welt. Aber ein derartiges Leben führt zu Sterilität und Erstarrung. Nur auf sich selbst angewiesen, ist der Mensch nicht mehr Mensch. Narziss, in sich selbst verliebt, will sich im Spiegelbild besitzen und löst sich dadurch selber auf.

Narziss verging. Von seiner Schönheit hob
sich unaufhörlich seines Wesens Nähe,
verdichtet wie der Duft vom Heliotrop.
Ihm aber war gesetzt, dass er sich sähe,

Er liebte was ihm ausging wieder ein
und war nicht mehr im offenen Wind enthalten
und schloss entzückt den Umkreis der Gestalten
und hob sich auf und konnte nicht mehr sein.

In den Entwürfen stehen folgende Zeilen, die darauf hindeuten, dass Rilke vorhatte, im Gedicht “Lass dir dass Kindheit war …” die Puppe in den sehr komplizierten Spiegelkomplex zu heben:

Spiegel, die Abgründe der Puppe, sie fällt in den –
Und die Dinge schämen sich für die Puppe
Spiegel – Abläufe.

Wenn das Kind von der Puppe sein ausgestrahltes Wesen zurückempfangen will, erfährt er “jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze sanft weitergehende Natur,  wie ein Lebloses über Abgründe hinüberhübe”. Seit Rilke sich dieser Gefahren im Künstlertum bewusst geworden war, versuchte er nicht mehr, die Welt der Kunst mit der der Wirklichkeit gleichzusetzen. Vor allem verleugnete er die Ansprüche des Lebens nicht mehr.

II   Die Dinge des täglichen Umgangs und Gebrauchs in ihrem Symbolgehalt für das menschliche Dasein: Haus, Krug, Brücke, Tor, Fenster, Obstbaum, Brunnen

Die Puppe ist das Ding, das in die Scheinwelt des Geistes gehört – da im Puppenaufsatz die Betonung auf dem Leben liegt, ordnet Rilke das Puppending der Welt der launischen unbesonnenen Fee und des Götzen zu. Ihr gegenüber steht der Gebrauchsgegenstand, der zur realen Welt gehört und zur Überwindung von äußerlichen Nöten geschaffen wurde. Es gibt jedoch auch Dinge, die Kunst und Nutzen, innere und äußere Welt verbinden. Zu ihnen gehören zum Beispiel der Tempel und der Dom. Sie sind zu einem bestimmten Zweck gebaut worden, aber dieser Zweck richtet sich auf Jenseitiges. Sie sind Haus, aber nicht ein Haus, das vor allem Schutz und Zuflucht auf der Erde geben soll, sondern sind Symbol für eine Heimat in der Ewigkeit. Sie wurden zur Ehre des Göttlichen gebaut, und in ihnen dient der Mensch auch weiterhin dem Göttlichen. Handlung, Gebärde, Gegenstand und Wort werden im Kultus symbolisch verstanden. Inneres wird dort veräußerlicht, Äußeres verinnerlicht. Aber die heutige Welt, die ganz von Zwecken beherrscht wird, hat keinen Sinn mehr für die zwecklose Handlung und das nutzlose Gebrauchsding.  Es kann den Tempel nur entweder als Haus betrachten, in dem man zur Not zum Beispiel Flüchtlinge unterbringen könnte, oder als Kunstgegenstand, der nur noch Objekt der Betrachtung ist und mit dem wirklichen Leben nichts mehr zu tun hat. Der Zeitgeist kennt keine Tempel mehr.

                                         Diese, des Herzens, Verschwendung
sparen wir heimlicher ein. Ja, wo noch eins übersteht,
ein einst gebetetes Ding, ein gedientes, geknietes -,
hält es sich, so wie es ist, schon ins Unsichtbare hin.
Viele gewahrens nicht mehr, doch ohne den Vorteil,
dass sie’s nun innerlich baun, mit Pfeilern und Statuen, größer!

Die Menschen von heute können, so Rilke, nicht mehr spielen – auch der Kultus ist in diesem Zusammenhang Spiel – und solche, die es noch können, wie zum Beispiel Kind und Künstler, stehen in ständiger Gefahr,  das Gefühl für die Wirklichkeit des Lebens zu verlieren. Überhaupt wird Handlung heutzutage nicht mehr symbolisch erfasst.  Die christliche Welt sah alles Geschehen als symbolische Kundgabe des göttlichen Willens. So bemühten sich die mittelalterlichen Theologen, wie zum Beispiel Ottfried von Weißenburg, die biblischen Gestalten und Geschichten sinnbildlich zu deuten, ohne jedoch dabei ihre geschichtliche Wirklichkeit anzuzweifeln. Heute sieht sich der Mensch nicht mehr als Teil eines größeren religiösen, also ideologischen Planes. Der Erste Weltkrieg, den Rilke anfänglich als Kampf um bleibende Werte begrüßte, machte es ihm bald ganz klar, dass seine Zeitgenossen nicht mehr fähig waren, um eine Idee zu kämpfen. Die Armee war nicht Heer, sondern Masse.  “So fürchterlich der Krieg an sich selbst ist, dies scheint mir noch entsetzlicher, dass sein Druck nirgends dazu beigetragen hat, den Menschen kenntlicher zu machen, ihn Gott gegenüber zu drängen, den Einzelnen oder die Masse, wie das in früheren Zeiten die Kraft großer Nöte war”, heißt es in einem Brief aus diesen Jahren. [26]Der Mensch hastet vorwärts, handelt, baut, plant, aber da er selbst keinen bleibenden Sinn in seinem Tun sieht, ist dieses Tun gestaltlos. “Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitfgeist, gestaltlos wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt.” (7. Duineser Elegie) Und Rilke ruft verzweifelt: Wo ist für uns hier das Sichtbare dieser verzweifelten Welt? In den Elegien wird schließlich die Antwort hierauf gegeben: in den einfachen Dingen.

         Sind wir vielleicht hier um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, -
höchstens: Säule, Turm …. Aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein.

Das ist die Lösung, die die Neunte Duineser Elegie findet. Alle diese Dinge gingen aus den ursprünglichen Nöten und Bedürfnissen des Menschen hervor. Sie weisen auf die äußeren Gesetze des menschlichen Daseins in dieser Welt hin, einerlei ob sie nunmehr durch die Anlage der menschlichen Natur oder die Gegebenheiten der äußeren Welt bestimmt sind, und dadurch, dass sie mit notwendigen Lebensgesetzen verknüpft sind,  können sie auch symbolisch auf die Geisteswelt des Menschen übertragen werden.

Einige der hier genannten Dinge fanden schon im Stunden-Buch symbolische Anwendung, vornehmlich das Haus und der Krug. Der Symbolkomplex des Hauses hängt mit der Problematik des Kunstdinges zusammen. Das Haus gewährt Heimat, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit, wie die Form in der das Kunstwerk lebt. Im Hause kann man Besitz unterbringen.  Das Haus kann aber auch ein “fremdes Zimmer” sein und schlimmer noch ein Gefängnis. Das Symbol des Kruges wäre als geistige Haltung im Dasein von Hirt und Heiligem verwirklicht. Das sind die Menschen, die sich offen halten und aufnehmen, bis sie überfließen, die die “ganze reine Gefährdung der Welt” auf sich nehmen, ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken.

Brücke, Tor und Fenster, die eine Verbindung zwischen ursprünglich Getrenntem herstellen, veranschaulichen die Vorstellung des Bezugs und bekommen erst im Spätwerk ihre volle Bedeutung. Die Brücke deutet auf ein Werk, das eine bleibende Verbindung über einen Abgrund hinweg herstellt. So zum Beispiel im folgenden Gedicht:

Da dich das geflügelte Entzücken
über manchen frühen Abgrund trug,
baue jetzt der unerhörten Brücken
kühn berechenbaren Bug.

Wunder ist nicht nur im unerklärten
Überstehen der Gefahr;
Erst in einer klaren reingewährten
Leistung wird das Wunder wunderbar.

Mitzuwirken ist nicht Überhebung
an dem unbeschreiblichen Bezug,
immer inniger wird die Verwebung,
und Getragensein ist nicht genug.

Deine ausgeübten Kräfte spanne,
bis sie reichen, zwischen zwein
Widersprüchen …Denn im Manne
will der Gott beraten sein.

Tor und Schwelle sind der Übergang von einer Welt in die andere und hängen mit der Idee des “Überschreitens” zusammen. Das Fenster, wie auch der Spiegel, ermöglichen einen Ausblick aus einer Welt in eine andere. Der Mensch, der in der äußeren Erscheinung die inneren Äquivalente sieht,  blickt wie in einen Spiegel oder wie durch ein Fenster. Rilke hat einen französichen Gedichtzyklus “Les Fenetres” geschrieben und eine ganze Reihe von Spiegelgedichten. Nun zum Obstbaum: Der Mensch hegt und pflegt den Obstbaum, bis schließlich die Frucht zur Reife gekommen ist. Am Baum und in der Hand sieht man nur ihre Schale, dort ist sie äußeres Ding. Wenn man sie isst jedoch,  erfährt man sie innerlich: sie wird innen verwandelt. Vom Brunnen, letztlich, handelt eines der Sonette an Orpheus. Er muss von der Fontäne unterschieden werden, denn er ist Gebrauchsding, während die Fontäne ein Kunstding ist. Die Natur an sich ist gestaltlos, erst der Mensch kann ihr Gestalt geben. Er sammelt das Wasser im Brunnen, bildet ihm den Brunnenmund, lehrt es das Wort, mit welchem es in das Ohr der Erde spricht, und durch das die Erde sich selbst erst bewusst wird. Derselbe Gedanke findet auch anderswo Ausdruck:

Raum greift aus uns und übersetzt die Dinge
dass dir das Dasein eines Baums gelinge,
wirf Innenraum um ihn aus jenem Raum,
der in dir west. Umgib ihn mit Verhaltung.
Er grenzt sich nicht. Erst in der Eingestaltung
in dein Verzichten wird er wirklich Baum.

Indem er das Fließende sammelt, dem Formlosen Gestalt gibt, schafft der Mensch auch sich selbst einen Zugang zur Natur. Es kann sich ein Krug einschieben.

Es gelingt Rilke wirklich, anhand dieser Dinge viele Aspekte des Menschtums zu veranschaulichen. Da es ihm um das Sein des Menschen und nicht um seine Handlungsmöglichkeiten in der Welt geht, ist es ihm möglich, seine Philosophie in statischen Symbolen dieser Art  darzustellen. Es scheint insofern nicht übertrieben, wenn Rilke meint, es sei dem Menschen möglich, sich an den Gebrauchsgegenständen, die er sich geschaffen hat, als metaphysisches Wesen zu begreifen. Es ist interessant, dass Heidegger besonders in seinen Frühwerken dem Symbolwert der Dinge auch eine sehr hohe Bedeutung zugeschrieben hat.


F.   Schluss: Charakterisierung der Klassik Rilkes

Rilke war in seinem reifen Werk, an dessen Anfang man wohl das Rodinbuch und die Neuen Gedichte setzen darf, ein Klassiker. Es ging ihm darum in den Erscheinungen die ewigen Gesetze aufzudecken, die hinter dem Individuellen und Einmaligen verborgen liegen. Man sieht jedoch auf den ersten Blick, dass sich Rilkes Klassik ganz wesentlich von der Weimarer Klassik unterscheidet. Die beiden Epochen haben ein ganz anderes Menschenbild.  Goethe und Rilke haben beide versucht ein Schema zu finden, das das Gesetz des wahren Menschentums aufdecken könne. Goethe schien es, dass er solch ein Gesetz in seinen naturwissenschaftllichen Studien entdeckt habe. Der Mensch bei Goethe war ein lebendes, strebendes Wesen. Rilke meinte durch sein Studium der Kunstdinge die Wesensstruktur des Menschen begriffen zu haben. Er erfasste den Menschen als seiendes, ruhendes Geschöpf. Aber auch die Auffassung vom Menschen, insofern er Bürger dieser Welt ist, ist bei den Weimarer Klassikern und Rilke sehr verschieden. Für Schiller und Goethe was der aktive, schöpferische Mensch, von dessen Bild, als Korrelat, das Bild des leidenden Menschen immer abhängig ist, ein Handelnder und Wirkender. Bei Rilke dagegen ist er ein Schaffender, Gestaltender. So kann man sagen, dass während Schiller und Goethe gegen den Realismus im Handeln und für den Idealismus kämpften, Rilke seinerseits gegen den Materialismus in der Einstellung zum gestalteten Gegenstand und für den Symbolismus focht. Für Schiller und die Weimarer Klassiker waren die Annalen der Geschichte das Schatzhaus, in dem sich das wahre Menschentum erhielt und deshalb auch der Ort an dem der Dichter, dessen Beruf es ist, solches Menschentum darzustellen, seine Stoffe suchte. Denn die Geschichte berichtet von Handlungen und Taten. Dagegen ware für Rilke dieses Schatzhaus des menschlichen Wesens das der Dinge, die der Mensch durch die Jahrhunderte hergestellt hat, von den einfachsten Gebrauchsgegenständen bis zu den großen Kunstwerken. In beiden Fällen, bei der Weimarer Klassik und bei Rilke, kam es wenig auf den unwiderruflichen Zeitpunkt und die einmalige geschichtliche Situation an, aus der Tat oder Werk hervorgingen, und nicht auf das Ungewöhnliche und Exzentrische, sondern auf das Notwendige und Dauernde. Das Charakteristische an Rilkes Klassik scheint mir somit wirklich zu sein, dass sie sich an den Dingen orientiert. Man vereinfacht nicht, wenn man von einer Kunst der Dinge spricht. Rilkes Einstellung zu den Dingen ist ohne Zweifel der Kernpunkt seiner Weltanschauung.





Bibliographie

Primärliteratur
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Sekundärliteratur
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                              Rainer Maria Rilke. Eine innere Biographie.  1955
                              Denken und Dichten des Seins.  Heidegger bis Rilke. 1956
                             Heidegger und die Dichtung. Hölderlin. Rilke. 1953
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Faesi, R. : Rainer Maria Rilke. 1919
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Goertz, H. :  Frankreich und das Erlebnis der Form im Werke Rainer Maria Rilkes. 1932
Guardini, R. : Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. 1953
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Heygrodt, R. H. :  Die Lyrik Rainer Maria Rilkes. Versuch einer Entwicklungsgeschichte. 1921
Holthusen, H.E. : Der unbehauste Mensch. 1952
Huizinga, J. : Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 1956
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Moevius, R. : Rainer Maria Rilkes Stundenbuch. Entstehung und Gehalt. 1937
Olivero, F. : Rainer Maria Rilke. 1931
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Sedlmayr, H, : Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. Und 20. Jahrhunderts als Symptom und                                Symbol der Zeit. 1955
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Staiger, E. : Grundbegriffe der Poetik. 1946
von Thurn und Taxis-Hohenlohe, M. : Erinnerungen an Rainer Maria Rilke. 1937
Wild, J. H. : Rainer Maria Rilke. Sein Weg zu Gott. 1936

Zeitschriften:
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- Contemporary English Poets and Rilke. In: German Life and Letters. New Series, 1, 1947-48, pp. 272 ff.
Stein, J. M. : The Duino Elegies. Germanic Review, XXVII, 4, 1952, pp. 288-293.
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[1] Brief an Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, 19. November, 1920
[2] Auguste Rodin, S. 26
[3] ibid. S. 30
[4] ibid. S. 57
[5] ibid. S. 54
[6] ibid. S. 65
[7] ibid. S. 65
[8] Brief an Clara Rilke, 20. September 1905
[9] ibid. S. 70
[10] Brief an Lou Andreas-Salome, 8. August, 1903
[11] Brief an Clara Rilke, 19. Oktober 1901. Zitiert nach Walter Hess: Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, 1956, S. 18
[12] Sedlmayr, Verlust der Mitte, Ullstein 1955, S. 98 f.
[13] Brief an ein junges Mädchen, Briefe aus Muzot (Insel-Verlag) S. 18
[14] Brief an Clara Rilke, 2. Dezember 1906
[15] Brief an Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, 12. Juli 1902
[16] Sedlmayr, op. cit., S. 137
[17] Auguste Rodin, S. 71, 73
[18] Brief an Clara Rilke, 24. Juni 1907
[19] Brief an Withold von Hulewitz, 13. November 1925
[20] Brief an Ellen Delp, 27. Oktober 1915
[21] Brief an Nora Purtscher Wydenbuck, 17. August, 1921
[22] Auguste Rodin, S. 77
[23] Brief an Lou Andreas-Salome, 8. August, 1903
[24] Brief an Clara Rilke, 19. Dezember, 1906
[25] Johan Huizinga Homo Ludens, Rowohlt 1956, S. 118
[26] Brief an Bernhard von der Marwitz, 9.März,1918